Rock wie Hose. Holger Hähle

Rock wie Hose - Holger Hähle


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beliebt sein. Also drücke dich nicht. Steh zu deinem Wort.“

      Alle Streitgespräche gewinnt mein Verstand. Das ändert aber überhaupt nicht meine Gefühlslage. Ich bin beeindruckt. So einen Fall habe ich noch nicht erlebt. Ich bin drauf und dran mich wider die Vernunft zu entscheiden, obwohl meine Gefühle in diesem Streit die klaren Verlierer sind. Sie sind weiterhin so allgemein und diffus. Sie leisten keinen qualitativen Beitrag zur Lösung und stehen doch kurz vor einem Sieg, wenn ich nicht aktiv dagegen steuer.

      Die Macht des Körpers ist gewaltig. Ich hätte nicht gedacht, dass unser evolutionäres Erbe, meine kulturelle Prägung und auch die Erziehung einen so massiven Einfluss auf den freien Willen haben können. Bislang habe ich immer an die freie Koexistenz von Kopf und Bauch geglaubt. Da kann man philosophisch werden und fragen: Wie frei sind wir wirklich, wenn Instinkte ein Veto-Recht gegen die Vernunft haben?

      Kurz darauf treffe ich Juliane vor der Bibliothek. Sie war vor Jahren meine Schülerin in einer Abschlussklasse des College. Jetzt studiert sie an der Fachuni. Ich grüße sie nicht einfach nur im Vorbeigehen, denn ich will ihr von meinem Karnevalsprojekt erzählen. Dafür gibt es einen Grund. Als ich damals in ihrer Klasse den Karnevalsvortrag zum ersten Mal hielt, war sie es, die die Idee mit der Schuluniform für den Lehrer hatte. Diesen kleinen Schock habe ich noch nicht vergessen. Damals gab es für ihre Idee gleich Zustimmung von allen Seiten. Ich war natürlich auf einen solchen Vorschlag nicht vorbereitet. Es fiel mir schwer, mich aus der Affäre zu ziehen. Meine Bauchgefühle reagierten danach erleichtert. Meine Ratio hatte aber schon damals eine klar andere Meinung. Die ließ sich in einem Wort zusammenfassen: Feigling.

      Heute sage ich ihr: „Diesmal tu ich es.“

      Und Juliane findet das toll.

      „Können wir auch vorbeikommen?", fragt sie sofort.

      „Wen meinen Sie mit wir?“

      „Na ja, die anderen, die auch aus meiner Klasse an die Fachhochschule gewechselt sind.“

      „Sind Sie sicher, die interessiert das?“

      „Klar, das interessiert doch jeden. Und Sie ziehen die komplette Uniform an? Nicht einfach nur den Rock über die Hose?“

      „Natürlich, wenn ich schon zusage, dann richtig. Halbe Sachen lohnen die Aufregung nicht.“ Ein wenig enttäuscht ist Juliane aber, weil ich keine weiteren Zuschauer möchte. Ich erkläre ihr, dass ich keine allzu große Welle machen will. Wir müssen damit rechnen, dass es Lehrer gibt, die meine Aktion nicht billigen. Bei so viel Anteilnahme fällt es mir schwer, sie und ihre Kommilitoninnen von dem Ereignis auszuschließen. Ich verspreche aber, wenn ihr oder mir ein alternativer Rahmen einfällt, dann werde ich mich noch mal extra für sie und ihre Kommilitonen verkleiden.

      Dieses Treffen tat richtig gut. Julianes Begeisterung beflügelt meinen Geist und lässt mich meine Bauchgefühle vorübergehend vergessen. Auch wenn mich das Wechselbad von Bauch und Kopf zum Für und Wider der Verkleidungsaktion noch mehrere Tage und ein Wochenende hindurch begleiten wird, eines ist jetzt aber klar. Das Kräfteverhältnis hat sich verschoben. Die Vernunft wird die Oberhand behalten.

      Ich nutze den wachsenden Stimmungswechsel in mir und entscheide Sven zu engagieren, während des Unterrichts in Uniform Fotos zu machen. Sven studiert Deutsch an der Universität von Wenzao. Er läuft ständig mit einer großen Kamera herum und fotografiert alles Mögliche. Bei Facebook hat er einige hundert Bilder gepostet mit Stillleben vom Campus und Close-ups von Schülerinnen und Studentinnen.

      Er sagt zu. Wir vereinbaren, dass er erst zehn Minuten vor dem Unterrichtsende kommen wird, um den normalen Ablauf der Stunde nur wenig zu stören. Er wird ohne Gruß eintreten und einfach los fotografieren. Ja, so machen wir das, denke ich und freue mich, dass das Ereignis gebührend dokumentiert wird.

      Für eine letzte begleitende Aktion nehme ich mir den Rest der Woche vor. Ich werde eine kleine Power-Point-Präsentation vorbereiten. Damit will ich meinen Unterricht beginnen, bevor ich zum grammatischen Teil komme. Meine Absicht ist aufzuklären und mein Verhalten zu rechtfertigen. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich schließe eine Wissenslücke und beruhige mein immer noch rumorendes Gewissen, in dem immer noch meine Bauchgefühle ein gewichtiges Wort haben.

      Immerhin muss auch meine Ratio eingestehen, dass wir aktuell in einer Zeit leben, in der ganz überwiegend nur noch Frauen Röcke tragen. Da kann ich schon verstehen, dass einigen Leuten, die einen Mann im Rock sehen, nur ein einziges Motiv einfällt. Für sie kann es sich nur um jemanden handeln, der eine Frau sein will. Es besteht also akuter Handlungsbedarf.

      Der Vortrag soll eine Einführung in die Modegeschichte sein. Im Mittelpunkt stehen Rock und Hose im Kontext ihrer sozio-kulturellen Bedeutung. Es soll deutlich werden, dass der Rock eine lange Tradition als universelles Kleidungsstück hat für Frauen und Männer.

      03 Der Tag X ist da

      Es ist soweit. Heute geht es los. Die Tasche mit den Klamotten habe ich bereits gestern Abend gepackt. Den Rock habe ich vorsichtig gefaltet und locker oben drauf gelegt. Ich habe natürlich keine Ahnung, wie empfindlich die Falten sind und ob sie leicht verknittern. Gehört habe ich jedenfalls, dass das Bügeln der schmalen, ungefähr fünfzig Falten immer wieder notwendig und jedes Mal umständlich ist, weil die Falten nicht abgenäht sind.

      Geschlafen habe ich gut. Als ich realisiere, welcher Tag ist, stellt sich wieder diese merkwürdige Gemengelage ein aus Bedenken und Zuversicht aus Bauch und Kopf. Auch wenn meinem Vorhaben nichts mehr im Wege steht, ein - wenn auch reduziertes - schlechtes Gewissen habe ich trotzdem. Auch weiterhin muss ich mir aktiv versichern, dass ich genau das Richtige vorhabe. Dann mache ich mich auf den Weg.

      Wenig später sehe ich an der Bushaltestelle die ersten Schülerinnen von Wenzao. Ich grinse, als ich mich frage, ob die sich wohl vorstellen können, dass ich heute die gleiche Uniform tragen werde? Die Jungs fallen weniger auf. Ihre Hosen haben kein auffälliges Tartanmuster. Auch Schüler anderer Schulen nutzen den Bus. An Hand der Schulröcke sind sie gut zu unterscheiden. Es werden überwiegend Faltenröcke getragen. Etwa siebzig Prozent der Schulröcke haben ein schottisches Karomuster.

      Als ich den Campus betrete, ist es noch früh. Die jüngeren Jahrgänge sind mit dem Ordnungsdienst beschäftigt. Sie fegen die Wege oder lesen Unrat auf. Zügig gehe ich zum Gebäude E. Mein Unterricht wird dort in einem der Computerräume stattfinden.

      Der Vorteil der Computerräume ist, dass sie eine kostenlose Klimaanlage haben. Man muss nicht wie in den anderen Klassenräumen eine Geldkarte einstecken. Der Nachteil ist, dass die Klimaanlage lange braucht, bis der sehr große Raum spürbar heruntergekühlt ist. Der Nachteil wiegt schwer, weil wir wie heute, einen sehr warmen Frühjahrstag haben. Das Thermostat zeigt für den Raum 31 Grad an. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch. Normalerweise starte ich einfach das Klima und gehe für einige Minuten nach draußen, wo meist ein leichter Wind oder der Zug im Treppenhaus die tropischen Temperaturen etwas erträglicher machen.

      Das geht heute nicht. Ich will mein Tafelbild schon vorzeichnen und muss noch einige Sachen für den Vortrag von einem speziellen Server herunterladen. Das ist deswegen nicht einfach für mich, weil die Benutzeroberfläche auf Chinesisch ist.

      Zuerst aber will ich mich umziehen, bevor ich noch stärker zu schwitzen beginne. Ohne Zögern fange ich an. Jetzt noch hadern, das geht nicht. Innerlich schalte ich auf Vollzug um. Das entzieht dem Widerstand der Bauchgefühle gegen die Verkleidungsaktion die letzte Kraft. Beim verschärften Vollzugsmodus wird durch die strenge Fokussierung das Bauchgefühl ausgeblendet. Das ist für mich ein eingeübtes Verfahren, das ich schon als Student anwandte, um mich durchzuringen, trotz Semesterferien mit der Vorbereitung auf Klausuren zu beginnen.

      Als Kind habe ich mich so im Schwimmbad ausgetrickst, um vom Sprungturm auch wirklich zu springen, wenn ich unsicher war und mich Angst zu blockieren drohte. Ich hatte mich doch schon entschieden zu springen. Also sollte es passieren. Erst habe ich mein Vorhaben lautstark angekündigt; und dann bin ich losmarschiert ohne anzuhalten, bis ich über den Rand des Sprungbretts trat. Ich glaube, schon damals funktionierte diese Strategie, weil ich mit meiner


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