Der Sturm entfacht von Herwarth Walden. Kerstin Herrnkind
gesagt. Zwar toben in Berlin zu dieser Zeit „heftige soziale Kämpfe“ (18), dennoch entwickelt sich die damalige Reichshauptstadt zu einer kulturellen Hochburg. Es gibt in Berlin über 100 Zeitungen, eine Vielzahl von Zeitschriften und Gazetten, zahlreiche größere und kleinere Theater sowie Galerien und Kunstausstellungen (19). Nell Walden beschreibt die Atmosphäre Berlins in den ersten 25 Jahren dieses Jahrhunderts so: „Diese Zeit ... war eine Blütezeit der Kultur und Kunst in Deutschland. Die Verschmelzung von jüdischem Geist und jüdischer künstlerischer Begabung mit deutschen Kultur- und Kunstelementen hat zu einem Niveau an künstlerischen Leistungen geführt, das nicht so leicht wieder zu erreichen werden wird. Das Zentrum war Berlin ... War Berlin damals eine deutsche Stadt? Berlin war international“ (20).
Nach dem Abitur will Herwarth Walden Musik studieren. Doch seinem Vater, der Facharzt für Harn-, Blasen-, und Nierenkrankheiten ist und der später den Titel des geheimen Sanitätsrates (21) trägt, schwebt eine andere Karriere für seinen Sohn vor. Er soll entweder Arzt oder Buchhändler werden. Während sich Waldens jüngere Geschwister Gertrud und Hans den Wünschen des Vaters beugen, setzt Herwarth Walden sein Musikstudium durch. In einer Kurzbiografie, veröffentlicht in der Anthologie „Expressionistische Dichtung vom Weltkrieg bis zur Gegenwart“ (24), heißt es: „Soll Arzt oder Kaufmann werden. Flieht nach Florenz und studiert Musik“ (25). Da diese Anthologie von Herwarth Walden herausgegeben worden ist, liegt nahe, dass er die Biografie selbst verfasst hat, zumindest aber genehmigt hat. Von einer dramatischen Flucht nach Florenz kann allerdings keine Rede sein. Herwarth Walden studiert Klavier, Komposition und Musikwissenschaft bei Conrad Ansorge (1862 - 1930) (26), einem der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit (27). Darüber hinaus besucht er das Berliner Konservatorium (28). Für sein hervorragendes Klavierspiel bekommt Herwarth Walden auf Empfehlung seines Lehrers ein Stipendium der Franz-Liszt-Stifung und geht 1897 für zwei Jahre nach Florenz (29). Als Herwarth Walden 1899 nach Berlin zurückkehrt, verdingt er sich als Musiklehrer und gibt Konzerte. Er komponierte darüber hinaus Opfern, Pantominen, Sinfonien, Klavierwerke und Lieder, darunter auch die bekannteren „Dafnis-Lieder“ zu Gedichten von Arno Holz: „Des berühmten Schäffers Dafnis sälbst verfärtigte Freß-, Sauff- und Venus-Lieder“ (30). Alfred Döblin schreibt 1911 im Sturm über die Musik Waldens: „H.W. kennen nur wenige als Komponisten. Die Strenge seines Geschmacks zieht nicht so leicht an. In seinen Liedern herrscht eine unvergleichliche künstlerische Zucht, die sich jede Äußerlichkeit untersagt, die rein musikalisch um den lyrischen Kern besorgt ist“ (31). Walden komponiert unter anderem auch Lieder nach den Gedichten von Richard Dehmel, Johann Wolfgang von Goethe, Peter Hille, Else Lasker-Schüler, Detlev Liliencron, Alfred Mombert und August Stramm. Zu erwähnen ist noch, dass Herwarth Walden Richard Strauss kannte und mit ihm Musikarbende organisierte (32). 1908 war er Mitherausgeber der „Symphonien und Tondichtungen“ von Richard Strauß (33). Ab 1910 spielt Walden noch hier und da als Komponist, ansonsten tritt sein musikalisches Schaffen immer stärker in den Hintergrund. Doch „Walden Interesse umfasste alles, was mit Kunst zusammenhing. Auch die angewandte Kunst interessierte ihn. Als Musiker lag ihm der Klang; Klang als Musik, Klang als Farbe. Darum Malerei“ (34).
Waldens Ehe mit Else Lasker Schüler
1899 lernt Herwarth Walden Else Lasker-Schüler kennen. Sie heiraten 1901 (35). Herwarth Walden erkennt das dichterische Talent seiner Frau, die eigentlich Malerin werden wollte (36). Else Lasker-Schüler beklagt sich in einem Brief an Franz Marc über ihre Drogensucht, der sie machtlos gegenüberstand (37). Sophie van Leer, die langjährige Sekretärin von Herwarth Walden, unterstellt ihm, er habe Else Lasker-Schüler nur geheiratet, um ihr Talent zu fördern und um sie vor dem körperlichen und seelischen Verfall zu bewahren: „Als junger Mensch heiratete er eine Dichterin, um sie und ihre Kunst von Krankheit und Zerfall zu bewahren. Er liebte sie nicht; aber er glaubte, irgendetwas schuldig zu sein. Er tat es mit Überzeugung und ohne Frage, ob es einen anderen Weg gäbe" (38).
Wenn Sophie van Leer recht hat, zeigt sich Walden hier zum ersten Mal als Förderer, der die Kunst über seine persönlichen Interessen stellt. Gleichwohl hält die Ehe zehn Jahre. Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler werden 1911 geschieden (39). Bis dahin „hatten er und seine Frau eigentlich nur im Kaffeehaus gelebt“ (40). Der Ausdruck „Kaffeehausliterat“ ist noch heute negativ besetzt. In den Kaffeehäusern brodelt damals allerdings das kulturelle Leben: „Dort diskutierte man, schrieb an Artikeln, empfing seine Freunde und feierte, wenn irgendeiner aus dem Kreis zu Geld kam ... Ganze Zeitschriften und Bücher entstanden an Kaffeehaustischen ... Es gab Cáfes, wo der Ober, wenn er Getränke brachte, zu gleicher Zeit Papier und Bleistift mit auf den Tisch legte. Kaffeehäuser in dieser Form waren schöpferische Orte der Kommunikation" (41). Diese Kaffeehäuser prägen damals auch die Kulturlandschaft Berlins. Else Lasker-Schüler schreibt über die Stadt: „Eine unumstössliche Uhr ist Berlin, sich wacht mit der Zeit, wir wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist“ (42).
Der „Verein für Kunst“
Aufdiesem Nährboden gründet Walden 1903 den „Verein für Kunst“. In der Literatur wird das Gründungsjahr unterschiedlich mit 1903 oder 1904 angegeben. Die erste Veranstaltung findet jedoch laut Ankündigung am Dienstag, dem 4. Oktober 1903, statt. Damit steht fest, dass Walden den Verein schon 1903 gegründet hat. Walden schreibt für den Verein eine Reihe von Künstlern an und lädt sie ein, für 100 Mark an den Veranstaltungen des Vereins mitzuwirken. Ein Standardbrief, den Walden an die Künstler verschickt, gibt Aufschluss über seine Motive, den „Verein für Kunst“ zu gründen: „Eine Anzahl Freunde der Kunst haben sich in Berlin zusammengetan, um den sogenannten ,Kunstförderungs-Vereinen‘ sowie den Agenturen entgegenzuarbeiten. Diese Unternehmungen fördern gewöhnlich Mittel- oder Publikumstalente oder erschweren durch hohe Prozente die Annäherung zwischen Künstlern und Genießenden, statt sie zu erleichtern. Dabei ist der ganze geschäftliche Betrieb keineswegs so kostspielig und kompliziert, wie es den Anschein hat.“ Walden will vierzehntägige Kulturabende veranstalten, „an denen nur wirkliche Künstler mitwirken werden“ (43): „Wir denken zum Beispiel an Aufführungen sogenannter ,unaufführbarer‘ dramatischer Werke und an Ankauf guter zeitgenössischer Literatur zur freien Verteilung an Volksbibliotheken etc. Es wird selbstverständlich zunächst das Vereinskapital im Interesse der Dichter und Künstler verwandt werden, die wir auffordern. Wir behalten uns jedoch vor, auch neuen Talenten, die zugleich schon Könner sind, auf diese Weise den Weg in die Öffentlichkeit zu erleichtern" (44).
Walden wandte sich also mit seinem Verein gegen die in erster Linie am finanziellen Gewinn interessierten Agenturen und Künstlervereinigungen. Der Brief zeugt von dem Idealismus Waldens, den er schon 1903 an den Tag legt. Er bietet jungen Talenten die Chance, sich erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, ohne dabei auf seinen eigenen finanziellen Vorteil bedacht zu sein. Dieser Brief ist insofern von besonderem Interesse, weil Walden sich in den zwanziger Jahren von Kandinsky und Chagall den Vorwurf der Veruntreuung von Honoraren gefallen lassen muss. Aber dazu später mehr. Karl Kraus würdigt Waldens Engagement 1909 in „Die Fackel“: „Er macht im Stillen Musik und Lärm für die Musik der Anderen. Er hat den ,Verein für Kunst‘ gegründet und hat von einer großen Fähigkeit, sich zu begeistern, und von einem kleinen Besitz an Nervenkraft und sonstigen Lebensgütern nichts für sich zu behalten, um alles an die undankbare Aufgabe zu wenden, den Künstlern zu einem Publikum zu verhelfen. Die literarische Propaganda der Tat, die ein Handwerk der Routiniers und Schwindler geworden war, hat durch ihn ihre Ehre wiedergewonnen" (45). Im „Verein für Kunst“ treten „bis 1909 fast alle damals bedeutenden impressionistischen Schriftsteller zum ersten Mal an die Öffentlichkeit“ (46). Darunter: Alfred Döblin, Max Brod, Heinrich und Thomas Mann, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke, Peter Hille, Karl Kraus, Richard Dehmel und Arno Holz (47). 1913 wird der „Verein für Kunst“ umorganisiert und Bestandteil des inzwischen gegründeten Verlags „Der Sturm“. In dieser Form besteht der „Verein für Kunst“ noch bis in die zwanziger Jahre (48).
Walden als Redakteur
Bevor Herwarth Walden 1910 den Sturm gründet, ist er bei verschiedenen