Zeitenwende. André Graf
freundlichen Blick in Richtung des Zwerges.
Cutter begrüßte den Fahrer, was dieser mit einem Kopfnicken quittierte.
Cutter war ein Mensch, der sehr viel auf den ersten Eindruck gab, den andere auf ihn machten. Er war damit sein ganzes Leben lang gut gefahren, hatte also keinen Anlass, diese Eigenheit gerade heute abzulegen. Prometheus hatte eben bei ihm gepunktet. Manch anderer hätte eine versteckte abschätzige Bemerkung über den Zwerg gemacht, doch Prometheus, das spürte Cutter, mochte diesen kleinen, seltsamen Mann. Und doch blieb da dieses Gefühl der Gefahr, das Cutter mit dem Fremdenführer assoziierte. Und Fritz, der Zwerg, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit was für einem Paar würden sie die nächsten drei Wochen verbringen? Fremdenführer und Fahrer. Ein seltsameres Team hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, und Cutter war schon in aller Herren Länder gewesen und hatte genügend außergewöhnliche Situationen erlebt, um mehr als nur ein Buch damit füllen zu können. Schade, dass Joanne schlief. Er musste sie möglichst rasch fragen, was sie von den beiden Begleitern hielt. Ihre Menschenkenntnis war oftmals der seinen überlegen.
Cutter schob diese Gedanken beiseite. Er wollte eben Joanne wecken, als sein Blick erneut auf den Zwerg fiel, der sich den Koffern zugewandt hatte. Er klemmte sich die beiden kleineren Koffer links und rechts unter die Arme, packte dann die beiden schwersten und hob sie hoch, als ob es sich um leeres Handgepäck handelte. So schlurfte er zum Ausgang. Dabei hielt er die beiden großen Koffer mit fast waagerecht vom Körper abgespreizten Armen – eine durch die ungünstige Auswirkung des Hebelgesetzes extrem kraftaufwendige Haltung. Der Zwerg musste Muskeln aus Stahl besitzen, sonst wären ihm die Koffer längst entglitten. Cutter selbst wäre nicht in der Lage gewesen, die Koffer auf diese Weise weiter als zwei Meter zu tragen, obwohl er fast täglich im Kraftraum mit Gewichten trainierte.
Prometheus stand noch immer unschlüssig neben Cutter, als der Zwerg bereits durch die Türe verschwunden war.
»Gehen Sie schon vor«, forderte Cutter ihn mit einem Blick auf Joanne auf. »Wir kommen gleich nach.«
Prometheus schien auf eine seltsame Art erleichtert zu sein. Hastig machte er kehrt und folgte dem Zwerg. Erst jetzt fiel Cutter auf, dass der Reiseleiter das linke Bein leicht nachzog.
Cutter küsste Joanne auf die Stirn, und als sie darauf nicht reagierte, fuhr er ihr sanft über die Wangen.
»Aufwachen, Joanne«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir sind in München, es ist neun Uhr und wir sollten uns auf den Weg machen.«
Joanne richtete sich auf, wischte sich den Schlaf aus ihren großen, grünen Augen und streckte sich geräuschvoll. Erst jetzt, bei geöffneten Augen, wurde ihre ganze Schönheit sichtbar. Ihre Augen bestimmten das Gesicht weit mehr als die wohlgeformte Nase oder die weichen Konturen ihrer Lippen.
»Ist unser Wagen schon hier?«, wollte sie wissen und blickte sich fragend um.
»Unsere Koffer sind schon draußen. Prometheus und Fritz warten dort auf uns.«
»Prometheus und Fritz?«, fragte sie.
»Unser Reiseleiter und der Fahrer«, erklärte Cutter. »Prometheus, der Reiseleiter, macht auf den ersten Blick einen ganz normalen Eindruck, auf den zweiten Blick hat er jedoch eine Ausstrahlung, die mich etwas unsicher macht. Der Fahrer hingegen ist ein Kobold. Ich hoffe, er fährt besser, als er aussieht, sonst gnade uns Gott.«
»Schauen wir uns die beiden doch einmal an«, forderte Joanne ihn auf. Sie erhob sich und ging ihrem Vater voraus.
In der Auffahrt stand ein mächtiger, schwarzer, sechstüriger BMW. Fritz hatte sich bereits hinter das Steuer gesetzt, so dass Joanne ihn durch die getönten Scheiben nur schemenhaft erkennen konnte. Prometheus stand vor dem Wagen und riss die Türe auf, als er Cutter und seine Tochter das Hotel verlassen sah. Zu Cutters Überraschung hinkte er anschließend beinahe hektisch um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein, noch bevor sie bei der Limousine angekommen waren.
Joanne bemerkte nur noch einen Schatten, der hinter dem Wagen verschwand. Etwas an seinem Verhalten und an seiner Ausstrahlung, die sie in den wenigen Zehntelsekunden gefühlt hatte, irritierte sie, doch es blieb ihr zu wenig Zeit, um darüber nachzudenken.
»Nette Menschen hier in Deutschland«, flüsterte sie Ihrem Vater zu. »Normalerweise wartet man doch wohl, bis die Gäste eingestiegen sind, und schließt dann die Türe hinter ihnen.«
Sie ließ ihrem Vater den Vortritt, stieg nach ihm in den geräumigen Fonds des Wagens ein und zog die Türe hinter sich zu. Augenblicklich setzte sich die Limousine beinahe geräuschlos in Bewegung.
Joanne sah sich um. Etwas stimmte nicht mit diesem Wagen. Ihr Blick fiel zuerst auf den großen Fernsehapparat, dann auf die gut ausgestattete Bar, die ihr Vater, der aus Prinzip nur sehr mäßig trank, kaum benutzen würde, und schließlich auf die einander gegenüberstehenden wiechen Sitze, in denen sie beinahe versank. Ihr Vater und sie blickten in Fahrtrichtung. Der Reiseführer, der freundlich und doch etwas herausfordernd lächelte und ihr die Hand entgegenstreckte, saß ihrem Vater gegenüber.
Sie blickte am Reiseführer hoch und wollte ihm eben die Hand reichen, als sie einen Schlag verspürte, als ob sie gegen eine Wand gelaufen wäre. Sie musste sich dazu zwingen, ihren Arm auszustrecken und Prometheus’ Hand zu ergreifen. Sie erwartete nichts Gutes von diesem Händedruck.
Trotzdem fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder, als sie nichts spürte, obwohl sich ihre Finger um seine Hand schlossen. Genauso gut hätte sie der Luft die Hand schütteln können. Sie zog verunsichert die Hand zurück, während ihr Prometheus einen verschwörerischen Blick zuwarf. Er zwinkerte ihr zu und legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. Er wollte, dass sie schwieg. Doch warum hatte er ihr die Hand entgegengestreckt? Wollte dieser seltsame und doch sympathische Fremdenführer, dass sie seine Andersartigkeit bemerkte? Wenn ja, was bezweckte er damit? Sie überlegte fieberhaft, doch außer unzähligen Fragmenten von Fragen konnte sie keinen vernünftigen Gedanken formulieren.
Ihr Vater hatte nichts von diesem kurzen Intermezzo bemerkt. Er blickte auch nicht nach rechts, wo seine Tochter mit entsetztem Gesicht in die Ferne starrte und um Fassung rang.
Cutter unterhielt sich mit Prometheus über die bevorstehende dreiwöchige Reise. Ihre Rundfahrt sollte sie von München aus noch heute nach Österreich führen, wo sie kreuz und quer durch das Land seiner Vorfahren reisen und schließlich über Ungarn, die Slowakei und Tschechien wieder zurück nach München fahren würden.
Es war eben eine kurze Pause eingetreten, als Prometheus ohne die geringste Vorwarnung fragte: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Cutter?«
»Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben vor dem Tod glaube«, antwortete Cutter instinktiv und scheinbar zynisch, ohne auch nur einen Moment überlegt zu haben.
Eine Sekunde später hätte er sich dafür ohrfeigen können. Prometheus hatte ihn mit seiner unerwarteten Frage überrascht. Hätte man ihm die gleiche Frage in Amerika gestellt, so wäre ihm dieser Fehler nicht passiert. Im Land der sehr begrenzten unbegrenzten Möglichkeiten trugen immer mehr Menschen ihren Glauben auf der Zunge, genauso wie sie ihn durch religiöse Sprüche auf ihren T-Shirts manifestierten. Zwischen Patriotismus und Religion war dort eine Art Symbiose entstanden, die es einem interessierten Beobachter unmöglich machte, ernsthafte Gespräche zu führen, ohne früher oder später beim Thema Religion zu landen. Doch hier waren sie in Deutschland, in Europa. Auf einem Kontinent, in dem ein Mensch, der regelmäßig in die Kirche ging, sich fast schon entschuldigen musste. Religion war bestenfalls Privatsache, die hinter verschlossenen Türen praktiziert wurde, wobei manche Praktiken eher an östliche Religionen erinnerten als an jene, denen der Stammvater Abraham gemeinsam war. So war denn auch in mehr Haushalten eine Buddhastatue anzutreffen – und sei es nur als Souvenir eines Asien-Aufenthaltes – als ein Kruzifix.
Prometheus’ Frage war daher so überraschend für Cutter gekommen, dass er eine vorschnelle, viel zu persönliche Antwort gegeben hatte, die Prometheus nur falsch