Zeitenwende. André Graf
nichts von dem ahnten, was Joanne soeben erlebt hatte und was sich, so vermutete Joanne, hier vor einigen Hundert Jahren tatsächlich abgespielt hatte.
Joanne vermied es, erneut in den Sog von Prometheus zu treten. Sie hatte für den Moment genug gesehen und genug zu überlegen. Was ging hier vor? Und vor allem: Wie sollte sie ihrem Vater oder irgendeinem Menschen auf dieser Erde erklären, was sie erlebt hatte? Der Gedanke, dass sie wahnsinnig war, drohte allmählich zur schrecklichen Gewissheit zu werden.
»Dort drüben gibt es ein Restaurant mit Spezialitäten, wie sie unsere Vorfahren im Mittelalter gegessen haben mögen. Ich habe Ihnen einen Tisch reserviert«, sagte Prometheus, als sie auf dem Dorfplatz angekommen waren, der von kleinen Läden gesäumt war, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einige Holzgebäude, die etwas abseits standen. »Genießen Sie das Essen und schauen Sie sich noch etwas um. Wir treffen uns in spätestens zweieinhalb Stunden beim Wagen. Bitte seien Sie pünktlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Mit diesen Worten entfernte er sich. Joanne schaute ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck nach. Noch immer zog er die unerklärliche Spur hinter sich her. Joanne schloss rasch die Augen. Sie hatte genug gesehen und keine Lust, noch einmal in die Vergangenheit zu blicken. Sie folgte ihrem Vater in eines der Restaurants, wo sie sich einen Wildschweinbraten bestellten, zu dem dunkles, grobes Roggenbrot serviert wurde. Sie aßen schweigend, Cutter mit sichtlich großem Appetit, während Joanne sich zwingen musste, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie zugeben musste, dass das Schweinefleisch außerordentlich zart und würzig war und sie noch nie in ihrem Leben ein derart schmackhaftes Brot genossen hatte.
Als sie das Essen mit einem erfrischenden, gekühlten Kräutertee abschlossen, sah Cutter seine Tochter ernst an. »Joanne, etwas stimmt nicht mit dir! Was ist los? Du wirkst völlig desinteressiert; ist es wirklich so schlimm hier in Europa?« Er streckte den Arm aus, um seine Hand auf die ihre zu legen.
Reflexartig zog Joanne ihre Hand zurück und hob abwehrend beide Hände.
Ihr Vater starrte sie erschrocken und verständnislos an. »Mein Gott, was ist mit dir?«, stammelte er überrascht. Das Mädchen, das ihm gegenübersaß, reagierte völlig unverständlich. Er konnte sich nicht erinnern, Joanne in den letzten Jahren je so erlebt zu haben.
Joanne blickte ihn aus ernsten, traurigen Augen an. »Es ist schwierig, es dir zu erklären«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Versuch es trotzdem«, forderte ihr Vater sie auf. Er war froh, dass Joanne wieder vernünftig mit ihm sprach. »Wir haben Zeit und ich bin ganz Ohr.«
Joanne überlegte fieberhaft, doch die Worte fehlten ihr. Es gab keine passenden Worte, weder für das, was sie empfand, noch für das, was sie erlebt hatte. Ihr Vater musste es selbst fühlen, nur dann würde er verstehen können. Doch Joanne hatte Angst. Angst davor, dass ihr Vater etwas fühlen könnte, und noch mehr Angst davor, dass er ebenso wenig fühlen könnte wie sie selbst.
»Mir fehlen die Worte«, wiederholte sie mit rauer Stimme. Langsam, vorsichtig legte sie ihre linke Hand auf den Holztisch. Sie blickte ihrem Vater tief in die Augen, in denen sich die Sorge um seine Tochter spiegelte. »Leg jetzt deine Hand auf meine. Aber sei nicht überrascht, was immer auch geschehen mag.«
Cutter zog überrascht die Augenbrauen hoch, tat dann jedoch, worum ihn seine Tochter gebeten hatte. Er streckte den Arm aus und berührte Joanne. Nachdem er zweimal zugegriffen und versucht hatte, Joannes Hand zu umfassen, war es an ihm, seine Hand mit einem Ruck zurückzuziehen. Eine grenzenlose Verblüffung legte sich auf sein Gesicht. Vorsichtig streckte er die Hand erneut aus. Seine Finger zitterten dabei deutlich. Er berührte Joannes schlanke Hand – oder genauer gesagt: er berührte sie eben nicht, obwohl seine Hand jetzt auf der ihren lag. Zumindest fühlte er keine Berührung. Er fühlte nichts. Und doch berührte seine Hand ihre Finger, das konnte er deutlich sehen. Seine Sinne verwirrten ihn. Sein Tastsinn sendete eine Information an sein Gehirn, seine Augen eine andere. Gemeinsam ergaben die beiden Informationen keinen Sinn, konnten von seinem Gehirn nicht korrekt verarbeitet werden.
Cutter wäre dieser Situation wohl hilflos gegenübergestanden, wenn er sich nicht an eine Begebenheit erinnert hätte, die sich während seiner Studienzeit zugetragen hatte. Mit einigen seiner Kommilitonen hatte er sich auf einer Party einen Spaß daraus gemacht, den Gästen grasgrüne Erdbeeren, dunkelblaue Gurken und rote Kiwi zum Kosten zu geben, die sie mit harmloser Lebensmittelfarbe behandelt hatten. Die meisten Gäste hatten – irritiert durch die ungewohnte Farbe – Mühe gehabt, die Nahrungsmittel aufgrund ihres Geschmacks und Aussehens zu erkennen. Sobald sie jedoch die Augen schlossen und sich ausschließlich auf den Geschmack der Speisen konzentrierten, errieten die meisten von ihnen, was sie gerade aßen.
Sein Erlebnis hier war ähnlich geartet. Zwei Sinne sendeten unterschiedliche Signale. Also ging es nun nur darum, das echte vom falschen Signal zu unterscheiden, dann würde sich das Rätsel auflösen. Er war schließlich Wissenschaftler. Mit einem wissenschaftlichen Vorgehen konnte er zweifellos eine Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon finden.
Cutter zog langsam seine Hand zurück. Er beobachtete Joannes Hand, die noch immer unbeweglich auf dem Tisch ruhte. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Hand auf dem Tisch lag. Es gab keinen Grund, an eine optische Täuschung zu glauben. Sie saßen im Schatten unter einem Strohdach, das sie vor der prallen Mittagssonne schützte. Das Licht war etwas diffus, doch Joannes Hand war deutlich sichtbar. Vorsichtig streckte er seine Hand wieder aus. Hätte er mit seiner Hand durch Joannes hindurchgreifen können, so hätte ihn das nicht völlig überrascht. Des Rätsels Lösung wäre damit gefunden gewesen: Es hätte sich bei Joanne um ein perfektes Hologramm handeln können. Irgendjemand hätte sich dann mit ihm einen ebenso üblen wie geschmacklosen, wenn auch sündhaft teuren Scherz erlaubt. Doch er konnte nicht durch Joannes Hand hindurchgreifen; er blieb auf geheimnisvolle Weise stecken, ohne dass sein Tastsinn irgendein Signal an sein Hirn gesendet hätte. Er fuhr Joannes Hand entlang, den Unterarm hinauf, er lehnte sich über den Tisch, ergriff ihren Oberarm und drückte mit aller Kraft zu. Es gelang ihm nicht, seine Hand zu schließen, und trotzdem spürte er keinen Widerstand. Und Joanne, die normalerweise unter dem harten Griff seiner Hand aufgeschrien hätte, verzog keine Miene.
Joannes Körper war real. Ein uraltes physikalisches Gesetz besagte, dass sich nicht zwei Körper am gleichen Ort befinden konnten. Es war also nicht verwunderlich, dass seine Hand nicht durch Joannes Körper hindurchgreifen konnte. So etwas war höchstens in drittklassigen Gruselfilmen möglich.
Doch gab es ein anderes physikalisch-biologisches Gesetz, das besagte, dass bei der Berührung zwischen zwei menschlichen Wesen Reize an die Gehirne der Betroffenen gesendet werden, die diese als Berührung interpretieren. Aber nichts dergleichen geschah; sein Tastsinn schien nicht mehr zu funktionieren. Und doch – wenn er den Tisch berührte, konnte er das raue Holz fühlen. Nur Joanne schien auf eine geheimnisvolle Weise immateriell zu sein. Panik stieg in ihm auf und vernebelte seine Sinne.
»Kannst du mich fühlen?«, fragte er, nachdem er kräftig gehustet hatte, um seiner Stimme wieder einen menschlichen Klang zu verleihen.
»Nein.« Joanne schüttelte heftig den Kopf und erzählte dann ihre Erlebnisse von dem Zeitpunkt, an dem sie in die Limousine gestiegen war, bis zum dem Moment, als sie in Prometheus’ Sog geraten war.
»Wahnsinn!«, stieß Cutter hervor. »So was gibts doch nicht!« Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Es gibt nur eine vernünftige Erklärung dafür, aber die ist zu phantastisch, um wahr zu sein.«
»Welche denn?« Es gab viele Eigenschaften, die Joanne an ihrem Vater bewunderte, doch am stärksten imponierte ihr, dass er sich zeitlebens mit Dingen beschäftigt hatte, von denen die meisten Menschen keine Ahnung hatten. Er hielt an der Universität Vorlesungen zur Quantentheorie, denen nur die wenigsten Studenten und lange nicht alle Professoren folgen konnten. Auch sie selbst verstand nur oberflächlich, wenn ihr Vater über sein Studiengebiet sprach, selbst wenn er sich Mühe gab, seine phantastische Welt mit einfachen Worten zu