Oskar Lafontaine. Robert Lorenz
SPD-Parteivorsitz, allgemein: in politischen Spitzenämtern zu verweilen. Viel eher lässt sich annehmen, dass es eine bereits zuvor existierende Verhaltensdisposition verstärkte, statt dass es eine neue Veranlagung schuf.
Im politischen Niemandsland: 1999 bis 2004
Nach seinem Rücktritt befindet sich Lafontaine in einem politikabstinenten Zwischenstadium. Doch gänzlich hat er der Politik noch nicht abgeschworen – insoweit ist sein Schritt tatsächlich mehr Flucht als Ausstieg gewesen. Natürlich weiß das Lafontaine, weiß um die Gefährdung seines Lebenswerkes in der politischen Geschichtsschreibung und müht sich vergleichsweise schnell um Korrekturen. Bis 2005, seinem offiziellen Wiedereinstieg in die Bundespolitik, versucht er, Deutungsmacht über seinen Rücktritt zu gewinnen. Dazu mobilisiert er seine Medienmacht, die durch seinen sensationellen Ausstieg, seine buchstäbliche Flucht aus Bonn, sogar noch gestiegen sein dürfte. Die Geschichte des sozialdemokratischen Deserteurs, des vorzeitigen Verlierers im Konflikt mit dem Kanzler, besitzt einen ungeheuren Nachrichtenwert. In Sabine Christiansens Talkrunde präsentiert sich Lafontaine ein halbes Jahr nach dem März-Vorfall bei seiner Rückkehr in die politische Öffentlichkeit sogleich als Politiker, der mit dem in guter Absicht unternommenen Versuch an den unrühmlichen Widerständen des politischen Geschäfts gescheitert sei, „Politik aus einem Guss“122 zu machen. Sehen ihn viele Parteifreunde als Täter, gibt er sich als Opfer. Auch in seinem Buch „Das Herz schlägt links“123, das im Herbst 1999 erscheint und bis 2004 rund 300.000 mal verkauft wird, versucht er sich an Richtigstellungen und an einer fundamentalen Kritik an der Politik der Bundesregierung, vertieft damit jedoch bloß den Bruch mit seinen alten Gefährten in der SPD, gilt nun erst Recht als Nestbeschmutzer und Fahnenflüchtiger.124
Was also hat Lafontaine zu sagen? Im Kontext der Geschehnisse liegt es nahe, sein Buch als Versuch zu sehen, ein bestimmtes Bild seines Rücktrittes, dessen Ursachen und Ziele herzustellen und zu vermitteln. Darin beklagt sich der Autor über „mangelnde Fairness und Wahrhaftigkeit mir gegenüber“ (S. 9) und gibt an, damals „nicht länger einem Kabinett angehören [zu wollen], das nicht zur notwendigen Zusammenarbeit fand und in dem der Regierungschef den Grundsatz missachtete, seine Minister vor allem in der Öffentlichkeit zu stützen“ (S. 223) – benennt also zunächst den kabinettsinternen Umgang und die Missachtung dortiger Gepflogenheiten als Rücktrittsgrund. Außerdem, so fährt er in seinem Buch fort, habe er „schon seit Wochen“ die Lösung allein darin erkannt, „dass es aufgrund der unterschiedlichen politischen Auffassungen und unterschiedlichen Arbeitsmethoden eine Lösung nur geben konnte, wenn einer von uns beiden [Lafontaine und Schröder, d.Verf.] seine Ämter aufgab. Gerhard Schröder war unser Spitzenkandidat im Wahlkampf, unsere Verfassung sagt, der Bundeskanzler, nicht der Parteivorsitzende, bestimmt die Richtlinien der Politik.“ (S. 226) Da Schröder als Regierungschef die stärkste demokratische und grundgesetzliche Legitimation besaß, habe also er, Lafontaine, sich aus der Partnerschaft zurückziehen müssen, auch damit Schröder an seiner statt die Partei führen könnte – worin er „wirklich die Chance eines Neuanfangs“ (ebd.) gesehen habe. In seiner ersten öffentlichen Stellungnahme, am 14. März 1999 der ARD gegenüber, gab er an, dass „die Entscheidung nichts zu tun hat mit der Richtung der Politik, die wir in den letzten Monaten gemacht haben“, sondern der Grund „meines Rücktritts ist das schlechte Mannschaftsspiel, das wir in den letzten Monaten geboten haben“ (S. 230). Über die wirklichen Beweggründe zu sinnieren, ist müßig und ab einem gewissen Punkt auch fruchtlos.
„Das Herz schlägt links“ liefert in erster Linie einen Eindruck davon, was Lafontaines beabsichtigte Deutung des Ereignisses ist. Vermutlich handelt es sich schlicht um eine Gemengelage unterschiedlicher Gründe mit jeweils verschiedenem Gewicht; zumal sich Menschen durch Selbstüberzeugung auch in Bedeutung und Ausmaß früherer Motive irgendwann selbst täuschen können. Vielleicht war es ja so: Lafontaine ertrug tatsächlich das schlechte „Mannschaftsspiel“ nicht mehr, das zu seinen Lasten ging; gleichzeitig konnte Schröder auf den demokratischen Zuspruch verweisen – wobei dieser Aspekt in Machtkämpfen freilich nicht immer vor Widerstand und Zermürbung durch einen Gegner schützt. Vielleicht hatte Lafontaine – zusätzlich – von der Spitzenpolitik inzwischen genug, nach so vielen Jahren politischer Arbeit und auf dem beschwerlichen Weg zur Regierungsmacht einen Erschöpfungszustand erreicht, der die Reize eines annehmlichen Lebens in der Ruhe der saarländischen Heimat immer mehr als unwiderstehliche Alternative erscheinen ließ. Womöglich glaubte Lafontaine, der infolge seines Rücktritts mit einer Übernahme des Parteivorsitzes durch Schröder rechnete,125 aber auch an ein baldiges Scheitern Schröders. Vielleicht trug sich Lafontaine ja tatsächlich mit der aufrichtigen Hoffnung, dass Schröder als „Parteivorsitzender […] auf die Partei zugehen und seine bisherige Gewohnheit aufgeben [würde], sich auf Kosten der Partei zu profilieren“126. Eine andere Möglichkeit ist denkbar: Schröder sollte sich in der Doppelrolle als Regierungs- und Parteichef aufreiben und letztlich gegenüber SPD-Mitgliedern und -Anhängern durch seine Politik diskreditieren, sodass daraufhin der Kontrast zur Lafontaine-Ära umso deutlicher, Lafontaine desto beliebter würde. Aber wie gesagt, wird man die wahre Begebenheit im Moment des Rücktritts wohl niemals zutreffend rekonstruieren können. Populäres Objekt politikhistorischer Deutungsversuche wird der Lafontaine-Rücktritt daher bleiben.
Lafontaines Gang in die Öffentlichkeit mag zwar seine neuerliche Kampfeslust demonstrieren und Gegnern wie Anhängern zeigen, dass er sich keineswegs in ein stilles Exil zurückgezogen hat; aber er kann doch nichts daran ändern, dass Lafontaines Karriere in der SPD erst einmal beendet ist, er keine Aussicht auf ein Spitzenamt besitzt. Sein selbstgerechter Umgang mit dem Rücktritt erschwert es vielen ohnehin konsternierten Anhängern von einst, die alte Liebe zu ihrem Impresario aufrechtzuerhalten oder wiederzufinden.
Aber wieder einmal spielt ihm das politische Klima in die Hände: Die Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen der rot-grünen Koalition, die manche Kritiker als verhängnisvollen Kahlschlag betrachten, liefern Lafontaine einen Resonanzboden für seine Kritik, die er neben diversen Reden und einem weiteren Buch („Die Wut wächst. Politik braucht Prinzipien“127) inzwischen, seit 2001, auch in einer Bild-Kolumne vorträgt.128 Mit seinem publizistischen Programm steht er 2004 im „Sommer des Unmuts“129 auf dem Höhepunkt der öffentlichen Sozialproteste unversehens im Einklang mit den empörten Bürgermassen, die sich in fünfstelliger Zahl zu Montagsdemonstrationen aufmachen; unvermittelt ist Lafontaine als professionelle Galionsfigur der Anti-Hartz-Bewegung zur Stelle – auch wenn ihn etliche Demonstranten in seiner Eigenschaft als „Politiker“ anfangs beargwöhnen.
Ohne sein eigenes Zutun entwickelt sich also die politische Situation zwischen seinem Ausstieg 1999 und seiner Rückkehr 2005 zu seinen Gunsten, entsteht plötzlich eine politische Nachfrage nach jemandem wie Lafontaine. Wie so oft in schwierigen Karrierephasen bewerkstelligt er sein Comeback nicht allein aus eigener Kraft, sondern nutzt die Rückkehrmöglichkeit eines klassischen Gelegenheitsfensters, das sich ihm auftut. Unmittelbar vor dem SPD-Sonderparteitag im März 2004 veröffentlicht er in der Bild als provokanten Gegenentwurf zur Schröder’schen Agenda 2010 seine „Agenda 2004“, im Herbst vollzieht sich die Gründung der WASG, sofort wird Lafontaine als Kandidat für die Führung einer neuen Linkspartei gehandelt.130 Wer will, kann es auch so sehen: Schröder war die Ursache für Lafontaines Ausstieg und ermöglichte ihm sechs Jahre später den Wiedereinstieg.
Neben dem günstigen Politikumfeld war, ist gesagt, Lafontaines anhaltendes Gespür für relevante Themen ausschlaggebend für dessen zweite Karriere. Dass seine intellektuellen Antennen für mitreißende, aufwiegelnde Themen noch intakt und sensibel sind, beweist Lafontaine spätestens mit seinem im Sommer 2005 veröffentlichten Buch „Politik für alle“, in dem er u.a. seine politische Kritik auf einer „schwarz-rot-gelb-grünen Allparteienkoalition“ aufbaut.131 Wieder einmal flankiert er damit seine politische Initiative auch publizistisch.
Insgesamt entsteht 2004/05 eine typische Lafontaine-Situation: Protestgetümmel ist schon immer ein Umfeld gewesen, in dem sich Lafontaine wohl fühlt. Im Frühjahr 1982 bestieg er vor 1,2 Millionen Gewerkschaftsjugendlichen eine Bühne in der Dortmunder Westfalenhalle, um gegen den Nato-Doppelbeschluss anzureden, auch führte er Sternmärsche an und blockierte an der US-Raketenbasis Mutlangen.132 Und nun, 2004, artikuliert sich ausgerechnet gegen jene Politik, mit der er seinen Rücktritt