Oskar Lafontaine. Robert Lorenz
eines ehrbaren Bürgers und tüchtigen Arbeitnehmers, nicht jedenfalls den eines offensichtlichen Schurken erworben hat. Damit hat der Spiegel letztlich dem angeschlagenen Lafontaine einen erholsamen Rollenwechsel ermöglicht, vom Täter zum Opfer. Und außerdem: Denkbar ist ebenfalls, dass Lafontaine einen Sympathiebonus erhielt – denn eindeutig kriminell und damit untragbar ist er ganz offenbar nicht; aber seine vermeintlichen Eskapaden, der Umgang mit Knastbrüdern, leichten Mädchen und Whisky-getränkte Nächte, verleihen ihm einen verwegenen Zug, der den ein oder anderen Saarlandbewohner vielleicht sogar ein wenig stolz macht; stolz darauf, dass da in der Staatskanzlei kein Langweiler hockt, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein Draufgänger, der zugleich seine Amtsgeschäfte ganz ordentlich verrichtet. Zumal, die Geschichte wurde nie dominant genug, um das Lafontaine-Image zu bestimmen, sondern ergänzte eine Vielzahl anderer Facetten, sodass der Politiker Lafontaine dadurch noch schillernder, bunter wurde. Zwingend geschadet haben muss die Affären-Serie ihm also nicht.
In den folgenden Jahren wandelt sich die politische Situation wieder zugunsten Lafontaines. Unter ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping stürzt die SPD nach der neuerlich verlorenen Bundestagswahl 1994 in eine Parteikrise. Während Scharping mit dem Stigma der Niederlage behaftet ist, verteidigt Lafontaine bei der Landtagswahl 1994 mit 49,4 Prozent seinen Machtstatus an der Saar; sein eigenes Scheitern 1990 ist da längst Bestandteil einer weit zurückliegenden Epoche der SPD-Geschichte. Und so erhört Lafontaine die Rufe vieler Genossen, tritt überraschend gegen Scharping in einer Kampkandidatur an und wird auf dem erst dadurch legendären Mannheimer Parteitag im November 1995 doch noch SPD-Parteivorsitzender – ein Amt, das er auch schon in den 1980er Jahren hätte haben können, das er jedoch mehrmals ausschlug.
Im angestaubten Kohl-Bonn lässt Lafontaine frischen Wind wehen. Jedenfalls empfindet so die Hauptstadtpresse. „Im standardisierten Bonn, wo neues Denken todsicher alte Ängste aufwühlt, wirkt er als Unruhestifter. Das Unaussprechbare aussprechen! Das Undenkbare denken!“98, so hält es 1992 beinahe schwärmerisch der Zeit-Journalist Gunter Hofmann fest. Und Lafontaine gelingt die Zusammenbindung der unterschiedlichen Parteiteile.99 Der als sozialdemokratischer Lebemann bekannte SPD-Chef leistet nun knochenharte Parteiarbeit, reist häufig entgegen seiner Gremienabneigung in die Parteizentrale nach Bonn, führt eine Unmenge von Telefonaten mit unterschiedlichen Parteigliederungen und verpflichtet seine Genossen auf einen geschlossenen Oppositionskurs. Und ausgerechnet der von ihm brüskierte Scharping trägt als Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zum Gelingen bei. Lafontaines Leistung im Parteivorsitz gerät jedenfalls zu einer unerlässlichen Voraussetzung für den Wahlsieg 1998. So will offenbar auch Lafontaine seinen Beitrag verstanden wissen, steht doch dazu auf seiner Homepage: „Nach dem Sieg der SPD bei der Bundestagswahl am 27. September, den er als Parteivorsitzender maßgeblich zustande brachte, wird Lafontaine zum Finanzminister ernannt.“100
Lafo-Dämmerung: Rücktritt
Im März 1999 bewahrheitet sich die eineinhalb Jahre zuvor geäußerte Prognose des FAZ-Journalisten Volker Zastrow, demnach die „dick aufgetragene Einigkeit von Lafontaine und Schröder“ nur so lange bestehen bliebe, „wie jeder von ihnen glaubt, auf diese Weise dem eigenen Ziele näher zu kommen“.101 Auch Hans-Jochen Vogel hatte also nicht Unrecht, wenn er schon früher behauptete, dass Lafontaine „die Wahrnehmung der vollen Verantwortung in einer Spitzenfunktion leichter fallen würde als Ein- oder gar Unterordnung“102.
Nicht grundlos lässt sich behaupten, dass der spätere Antagonismus der beiden Urheber des Machtwechsels, Lafontaine und Schröder, vorgezeichnet gewesen ist. Lafontaine und Schröder – bereits Mitte der 1990er Jahre, als die SPD in politischen Dimensionen noch Lichtjahre vom Status einer Kanzlerpartei entfernt war, lagen die beiden schon einmal im Clinch. In der einen Ecke der saarländische Ministerpräsident, der mit einem wachen Blick in die Zukunft für die SPD ein ökologiepolitisches Profil einforderte; in der anderen der niedersächsische Ministerpräsident, der Mann der Auto-Industrie, der sich innerhalb der SPD von keinem was sagen lassen wollte.103 Natürlich lässt sich aus einer seinerzeit fernen Zukunft mit Leichtigkeit davon sprechen, dass die spätere Eskalation des Konflikts dieser beiden sozialdemokratischen Alphatiere vorhersehbar war. Doch war sie auch vermeidbar? Und ließ sich damals wirklich mehr sagen, als dass sich das spätere Zerwürfnis im Zusammentreffen zweier Politiker mit absolutistischem Machtanspruch zwar erkennbar anbahnte, jedoch keinesfalls den völligen Ausstieg Lafontaines, also auch die Aufgabe des Parteivorsitzes, verhieß?
Der Bruch mit Schröder und der Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers allein wären vermutlich nachvollziehbar gewesen und als ebenso legitim wie entschuldbar erachtet worden. Doch die vollständige Kapitulation in Form eines zusätzlichen Rücktritts vom Bundesparteivorsitz hatte etwas unergründlich Totalitäres an sich. Und dafür haben im Frühjahr 1999 auch nicht viele Verständnis. Nur wenige, auch einschlägig als solche bekannte, Sympathisanten schlagen sich auf Lafontaines Seite: So schwärmt bspw. der saarländische Schriftsteller Ludwig Harig von dem Akt eines „Überzeugungstäters, der nur sich selbst verpflichtet und verantwortlich ist“, der außerdem die Frage aufwerfe, ob „die hellsichtige Entscheidung des Deserteurs, mit Rücktritt wider den Stachel zu löcken, nicht höher zu bewerten sei als der blinde Gehorsam des Mitläufers, sich im Fraktionszwang zu disziplinieren“.104 Für die meisten anderen ist Lafontaine dagegen ein gefallener König, mitunter ein Feigling, der seine treuen Anhänger im Stich lässt und ohne Not und Widerstand kapituliert hat, kurz: einen unverzeihlichen Fehltritt begangen hat.
So überraschend für viele Lafontaines Ausstieg auch erfolgte, so war er doch in gewisser Weise absehbar gewesen. Wenn es nun auch im Nachhinein naturgemäß leicht fällt, in der Vergangenheit Hinweise zu finden, so gab es sie dennoch – Lafontaines Rücktritt mag sich zwar nicht als Zwangsläufigkeit abgezeichnet haben, aber Indizien verdichteten sich in den letzten Wochen von Lafontaines Zeit im Kabinett und an der Parteispitze. „So kann man nicht regieren“105, brach es aus ihm nach nur kurzer Zeit vor der Bundestagsfraktion heraus; er wollte sich nicht mehr – insbesondere mit Blick auf seine Sympathien bei der Parteilinken – für die Politik von Schröder, Riester oder Müntefering in Haft nehmen lassen, bekam nun die unangenehmen Begleiterscheinungen von Kabinettsdisziplin und Kanzleramtsvorgaben zu spüren. Sein anfängliches Amüsement über einen von Außenstehenden unterstellten Konflikt mit Schröder, den er mit der vorgeblich gelassenen Bemerkung herunterspielte, er gehe, wenn nötig, eben auch zum „Chef“106, erwies sich nur kurze Zeit später als genauso gespielt wie die demonstrativen Eintrachtsbekenntnisse107 der beiden Rivalen.
Die einstige Vorstellung, innerhalb der Ministerriege als Chef des Finanzressorts der „Erste unter Gleichen“108 zu sein, war übertrieben optimistisch und hielt nicht lange vor. Die Mehrfachbelastung der gleichzeitigen Amtsführung als Finanzminister, der sämtliche Ausgaben der Regierung zu überblicken und kontrollieren hatte, und als Parteivorsitzender, der auseinanderdriftende Lager zusammenzubringen und Wahlniederlagen zu verarbeiten hatte, überstiegen nun ganz offenbar Lafontaines Toleranzschwelle für das persönliche Leiden an Politik.109 Und das war eigentlich auch kein Wunder: Einer, der zwanzig Jahre hinweg ständig nur aufgestiegen war und stets als herausragende Persönlichkeit gegolten hatte, war nun der „Kassenwart“ unter dem „Kanzler“, mindestens degradiert, mitunter unweit von gedemütigt.110 Das widersprach seiner Führungspraxis im Saarland, wo er die unangefochtene Autorität darstellte, alles und jeden kontrollierte, die wichtigen Entscheidungen traf – diese Gewohnheit war in Bonn dahin.
Außerdem hatte Lafontaine im Unterschied zu manchem anderen Kabinettsmitglied ungewöhnlich viel zu tun, musste das jahrelang unionsgeführte Bundesfinanzministerium neu aufstellen, musste als Vorsitzender die innerparteiliche Kritik am Regierungskurs auffangen und sich um eine ob empfindlicher Niederlagen wie der Hessenwahl im Februar 1999 beunruhigte Partei kümmern, musste seinen erodierenden Machtstatus innerhalb der SPD und gegenüber dem nunmehrigen Kanzler Schröder verteidigen, ja musste nun nicht mehr nur zwischen Saarbrücken und Bonn pendeln, sondern auch Auslandsreisen unternehmen. Strategisch hatte sich Lafontaine auf dem politischen Schachbrett in eine missliche Lage begeben.
Und Lafontaine musste nun, nachdem er jahrelang das Gefühl von Unverzichtbarkeit erfahren hatte, erkennen, dass er für den Mann im Kanzleramt austauschbar, nahezu gleichgültig geworden war.