Lazarus. Christian Otte
die Tür los, die er höflicher weise aufgehalten hatte.
Er trat neben den Doktor an den Tisch, auf dem der Leichnam lag, dessentwegen die Zentrale die beiden hergeschickt hatte.
„Das ist er“, sagte Hansen, während der große Mann Latexhandschuhe aus seinen Anzugtaschen fischte.
„Zeitpunkt des Todes?“
„Heute Morgen, kurz nach zwei ging der Anruf bei der Notrufzentrale ein. Die Verletzung war sofort tödlich.“ Dabei deutete er auf die Stelle, an der man an einem menschlichen Körper den Kopf erwarten würde.
„Haben sie irgendwelche weiteren Informationen, die nützlich sein könnten?“, fragte der Mann, der nun mit der rechten Hand im Brustkorb der Leiche herumtastete.
„Nur, was ich der Zentrale schon mitgeteilt habe. Name, Alter, Krankengeschichte, alles soweit korrekt.“
„Von wann ist sein Ausweis?“
Der Doktor nahm eine Akte von einem Tisch in der Nähe und blätterte darin herum.
„2 Jahre alt“, sagte er schließlich, als er die Kopie der Karte gefunden hatte.
Der Mann tastete inzwischen den Stumpf ab, der vom Hals übriggeblieben war. Er fand was er suchte, war darüber aber sichtlich nicht erfreut.
Er richtete sich auf, streifte die Handschuhe ab und ging zum Waschbecken in der Ecke.
„Sie hatten Recht“, sagte er an Hansen gewandt, während er sich darauf konzentrierte seine Hände zu schrubben.
„Dann nehme ich an: ' das übliche Prozedere'?“
„Ja, das ganze Programm. Ich schicke Ihnen eine Putzkolonne, die sollte in spätestens einer Stunde da sein.“
„Danke.“
„Ich danke Ihnen, Doktor Hansen.“
Der große Mann verließ den Saal und sprach mit jemandem über ein Mikrophon, das in seiner Brille eingebaut war, und beendete das Gespräch erst, als die beiden Männer im Anzug die Pathologie bereits verlassen hatten.
„Die Putzkolonne ist unterwegs und wird in 45 Minuten hier sein.“
„Also hatte Hansen Recht?“, es war eher eine Feststellung des kleineren Mannes als eine Frage.
„Ja, leider. Irgendjemand hat sich nicht an die Spielregeln gehalten.“
„Aber warum?“
„Das weiß ich nicht. Es ergibt keinen Sinn. Und genau das ist, was mich stört.“
Die beiden verließen das Klinikum durch das Forum, durch das sie auch hineingekommen waren.
„Hast du dich beruhigt?“, fragte der Kleinere.
„Ja“, grummelte der Große und setzte seine dunkle Brille ab. Seine Augen hatten jetzt wieder ihr menschliches Aussehen.
3
Der Wagon war dicht gefüllt. Etwas anderes hatte Anna auch nicht erwartet. Nicht um diese Zeit und nicht an dieser Station. Wenn andere Leute auf der Arbeit schon ihre erste Frühstückspause hatten, fuhren Studenten wie sie zur Uni. Klar gab es auch die eifrigen Studenten, die früh morgens um 8 Uhr zur ersten Veranstaltung gingen, weil diese leerer waren und man besser mit dem Dozenten in den Dialog treten konnte. Aber die meisten Vorlesungen begannen erst um 10 Uhr. Dementsprechend verstopften die meisten Studenten Wege, Straßen und U-Bahnen erst zu dieser Zeit.
Um sich herum hatte sie nur Schultern und Rücken auf Augenhöhe. Ihr Pferdeschwanz klemmte zwischen ihrem Rucksack und dem Mann hinter ihr. Sie hatte eigentlich kein Problem mit der Enge in Berliner U-Bahnen zur Hauptverkehrszeit, aber trotzdem empfand sie es heute extrem unangenehm. Vielleicht sollte sie auch früher zur Uni fahren. Der Gedanke kam ihr bekannt vor. Hatte sie sich das gleiche nicht auch am Anfang des letzten Semesters vorgenommen? Jetzt wo sie so darüber nachdachte, ja das klang plausibel. Offensichtlich hatte das Konzept die vorlesungsfreie Zeit nicht überlebt.
Die Türen öffneten sich und die Welle aus Studenten ergoss sich über den Bahnsteig und trug Anna Richtung Ausgang.
Sie versuchte sich möglichst nah an der Wand zu halten um nicht wie ein Ball hin und her geschmissen zu werden. Zum Glück für sie dauerte es nur einige Sekunden, bis sie wieder den Himmel über sich sah. Sie trat einen Schritt zur Seite, kaum dass sie die Treppe verlassen hatte. Sie versuchte ihre Jacke, das Tuch, das sie sich um den Hals gewickelt hatte, ihren Rucksack und Ihre Handtasche zu ordnen. Sie musste sich endlich angewöhnen, die wichtigsten Sachen aus ihrer Handtasche in den Rucksack zu packen um nur noch mit einer Tasche zur Uni zu gehen. Auch dieser Gedanke kam ihr vertraut vor.
Irgendwie hatte sich in dem Gedränge der Bahn ihr Tuch in einem der Reißverschlüsse verhakt und mit ihren langen braunen Haaren verknotet, während ihre Handtasche zwischen Ihren Rücken und den Rucksack gewandert ist. Sie wollte ihre Haare durch reines Ziehen befreien, aber der Schmerz verriet ihr, dass das keine gute Idee war.
Vorsichtig legte sie ihre Tasche ab und auf den Boden. Dann wickelte sie ihr Tuch langsam ab.
„Autsch“, das Tuch hatte sich doch schwerer mit Haaren und dem Reißverschluss verkettet, als sie es angenommen hatte.
Sie tastete an Ihren Haaren entlang, bis sie an die Stelle kam, an der ihr Tuch in den Reißverschluss überging.
„So ein Mist. Verdammte … Arg.“ Sie fluchte vor sich hin, wobei jeder neue Fluch lauter wurde, als der vorherige.
„Kann ich helfen?“
Sie drehte den Kopf um zu sehen, wer da fragte, und hätte sich bei dem Ruck fast die eingeklemmten Haare rausgerissen.
Ein junger Mann, sie schätzte ihn auf ebenso alt wie sich, also etwa 21, stand knapp einen Meter vor ihr.
„Oh ja danke.“ Sie nahm ungern Hilfe an, aber ohne könnte sie noch minutenlang mit ihrem Befreiungsversuch beschäftigt sein.
Er trat hinter sie, und befreite mit einem geschickten Griff ihre Haare und das Tuch aus dem Verschluss.
„Endlich, danke.“ seufzte sie und wickelte ihr Tuch wieder um, wobei sie darauf achtete, die Haare nicht mit einzuwickeln.
„Nichts zu danken“, sagte der Helfer und reichte ihr ihre Handtasche, die er aufgehoben hatte.
Noch ehe sie etwas Weiteres sagen konnte, hatte er sich schon wieder auf den Weg gemacht. Sie sah ihm noch einige Sekunden hinterher, bevor er in der Studentenwelle unterging, die sich auf das Hauptgebäude zubewegte.
Es dauerte 3 weitere Sekunden, bis ihr auffiel das ihre Handtasche offen war. Nach weiteren 2 hatte sie erkannt, dass ihr Handy und ihre Geldbörse fehlten.
Aus einem Instinkt heraus rief sie: „Stopp stehenbleiben!“
Hatte das eigentlich schon jemals funktioniert? Erst recht in einer Großstadt.
„Der Kerl hat mich beklaut.“
Was dachte sie sich dabei? Hatte das außer in den schlechten Krimiserien, die ihre Oma so gerne sah schon jemals zum Erfolg geführt.
„Verfickte Scheiße“, wollte sie leise sagen, doch ihre Stimme war noch laut.
Jetzt blieben wirklich einige Menschen stehen und drehten sich nach ihr um.
Na toll, dachte sie, keiner hilft, aber wenn man unhöflich wird glotzen alle. In ihrem Gedanken überhörte sie das Geräusch einige Meter weiter. Erst ein Klatschen, dann das Scheppern von Metall.
Sie versuchte erfolglos eine Träne zu unterdrücken. Nicht weil sie traurig über die verlorenen Dinge war, sondern wütend, dass ihr so etwas am ersten Tag des neuen Semesters passieren musste. An jedem anderen Tag wäre es genauso schlimm gewesen, aber trotzdem war heute blöd. Sie hockte sich hin und wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
„Sind das deine?“