Waldesruh. Christoph Wagner
Sie recht. Aber“, und jetzt sprach er ganz leise, „die Welt ist nicht immer so, wie sie sein sollte.“
„Also – Bananenrepublik!“
„Das geht denn doch zu weit, Herr Travniczek, da muss man differenzieren.“
„Was heißt ‚differenzieren‘? Vor dem Gesetz sind alle gleich – steht in der Verfassung. Wenn das nicht gilt, sind wir nicht besser als irgendeine Bananenrepublik.“
Travniczek hielt inne, um Solms die Möglichkeit zum Antworten zu geben. Aber er hörte ihn nur weiter schwer atmen. Also fuhr er ganz sachlich fort: „Ich werde morgen die bisherigen Ergebnisse an Staatsanwalt Wurlitzer übergeben, damit er ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen versuchten Totschlags einleitet, und wir werden dann nach bestem Wissen und – das ist jetzt keine Floskel – Gewissen ermitteln. Dass dabei die Unterzeichner dieses Drohbriefs zunächst alle verdächtig sind, ist einfach Fakt. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.“
Solms hatte jede Gegenwehr aufgegeben.
„Dann tun Sie das. Aber ich bestehe darauf, dass Sie mir täglich über den Fortgang der Ermittlungen Bericht erstatten, und – seien Sie vorsichtig, Travniczek – Fingerspitzengefühl, Sie sind doch Pianist.“
Travniczek musste lachen. Ein solcher Zusammenhang zwischen Pianist und Kriminalist war ihm noch nie in den Sinn gekommen.
„Ich werde mir Mühe geben.“
„Das will ich hoffen. Dann nichts für ungut. Trotz allem noch einen schönen Sonntag.“
„Ebenso, Herr Direktor.“
Er legte auf und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Von seinen Kindern war noch nichts zu hören.
Er starrte gegen die Decke und versuchte, sich ausschließlich auf seinen Atem zu konzentrieren. Die Gedanken an dieses unselige Waldesruh wollte er jetzt unbedingt wegschieben. Es war Sonntag. Der musste seinen Kindern gehören. Er konnte doch nicht gleich wieder dort anfangen, wo er in München gescheitert war.
Einatmen – ausatmen – einatmen – ausatmen. Eine kleine Zeit ging das so. Aber dann waren die Gedanken wieder da, gar nicht so sehr an Waldesruh, sondern ganz grundsätzlich. Wie verhielt es sich eigentlich mit Demokratie und Menschenrechten? Diese Schlagworte hörte man doch immer, wenn es darum ging, Andere – meist in fernen Ländern – ob ihrer Verfehlungen anzuklagen. Da fühlte man sich doch richtig gut. Aber wenn er gegen einen Spezi vom Spezi des Innenministers ermitteln musste, sollte er vorsichtig sein! Verhältnismäßigkeit, Fingerspitzengefühl. Der Herr Direktor wusste nicht, ob er ihn dann noch schützen konnte. – – –
Er hätte doch besser Pianist werden sollen.
Er sprang auf, zog sich so schnell er konnte an und verließ die Wohnung.
In der Rohrbacher Straße ein Stück in Richtung Heidelberg kannte er eine Bäckerei, wo man auch sonntags frische Brötchen bekam.
18
Erst am hellen Vormittag waren seine drei aufgewacht. Sie frühstückten zusammen in ausgelassener Stimmung und sein Ansinnen, Julia und Christian sollten sich doch gleich einmal im Internet über die Heidelberger Schulen informieren, wurde mit einem empörten „Doch nicht am Sonntag!“ gnadenlos abgeschmettert.
Es war über Nacht kälter geworden und die Sonne schien wieder vom wolkenlosen Himmel. Bernhard schlug einen Stadtbummel vor.
Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Bismarckplatz, schlenderten die Hauptstraße entlang, in der die Weihnachtsdekoration immer noch für Stimmung sorgen sollte. Julia und Christian mokierten sich über die Provinzialität der Angebote in den Geschäften, sahen dann aber doch begeistert einem Straßenkünstler zu, der in silbernem Ganzkörperoutfit eine Tanzpantomime vollführte.
Sie bogen dann zum Neckar hin ab und schlenderten gemächlich über die Alte Brücke. Der Blick über den Neckar, die verschneite Stadt und die umgebende Landschaft im strahlenden Sonnenlicht und bei tiefblauem Himmel war einfach grandios.
„Megageil!“, meinte Julia.
„Echt krönungsbedürftig“, steigerte Christian das noch.
O je, dachte der Vater, jetzt muss ich eine neue Sprache lernen.
Auf der nördlichen Neckarseite gingen sie weiter zum Wehrsteg* und der Vater erzählte, wie sein erster, äußerst dramatischer Fall3 in Heidelberg an dieser Stelle beinahe ein katastrophales Ende genommen hätte.
Sie überquerten wieder den Neckar und verweilten am Karlstor. Als der Vater erklärte, dass es nie eine Funktion hatte, sondern als Dankgeschenk der Bürger an Kurfürst Karl Theodor errichtet worden war, regte sich Julia sehr über so viel Verschwendung auf.
Danach fuhren sie mit der Bergbahn zum Schloss hinauf. Wie immer wimmelte es auch an diesem Sonntag von Touristen, doch der viele Schnee dämpfte alle Geräusche, so dass es viel stiller und auch geheimnisvoller wirkte als sonst.
Irgendwann kam das Gespräch auf die Wohnsituation. Die Kinder waren von klein auf gewohnt, jeder sein eigenes Zimmer zu haben. Sie brauchten natürlich bald eine neue, größere Wohnung.
Travniczek war skeptisch, dass sich auf dem Heidelberger Wohnungsmarkt schnell etwas Bezahlbares finden lassen würde. Sein Pessimismus färbte auf Julia und Christian ab. Doch Bernhard hielt dagegen.
„Keine Panik. So schlimm ist das alles gar nicht. Ich bin sicher, wir finden was Gutes, viel schneller als ihr denkt.“
Bernhard schien dabei so sicher zu sein, dass Travniczek stutzte. Schlug hier nur sein übersensibles Kriminalistenhirn an oder hatte der etwa schon was in petto? Er sah zu ihm hinüber, aber der begegnete seinem Blick mit ausgesucht harmloser Miene.
Als es zu dunkeln begann, beschloss der Vater, zur Feier des Tages die ganze Bande zum Abendessen ins Hotel Ritter* einzuladen, eins der edelsten Lokale in Heidelberg. Sie fanden dort tatsächlich Platz. Als ihnen ein schwarzgekleideter Kellner mit roter Fliege die Speisekarte vorlegte, entschied Travniczek sofort, die Preise einfach zu ignorieren. Schließlich konnte er ja mit seiner Kreditkarte bezahlen.
Die Auswahl indessen verlief dann nicht so einfach, da Julia sich bereits seit zwei Jahren nur vegetarisch ernährte. Als sie die Speisekarte studierte und da nur drei vegetarische Gerichte fand, wovon eines auch noch vegan war, wofür sie wiederum überhaupt kein Verständnis hatte, schimpfte sie über die übliche Diskriminierung der Vegetarier und wollte dann erst gar nichts essen. Nur mit Mühe konnte ihr Vater sie doch zu einem „Zucchini Parmiggiani“ überreden4, im Ofen geschmorten Ochsenherztomaten und Zucchini mit schwarzen Oliven, Büffelmozzarella und Kurkumareis. Es blieb ein kleiner Vorbehalt, denn vor dem Bestellen wollte sie erst wissen, was Kurkumareis denn sei.
Christian erwies sich da als sehr viel pflegeleichter. Er entschied sich für Schweinemedaillons auf Filderkrautspätzle, Rotweinsauce und Champignons einzig deswegen, weil er da nicht die ganze Speisekarte lesen musste.
Bernhard hätte zu gern mit seinem Vater zusammen ein Chateaubriand für zwei Personen mit Sauce bearnaise, Champignons, Paprikagemüse, glasiertem Gemüse und Kartoffelgratin probiert. Aber der Vater wollte da nicht mitmachen, weil er, wie er sagte, sich schon für geschmorte Rinderroulade nach Hausfrauenart, gefüllt mit Gurke, Speck und Zwiebeln, Rotweinsauce, glasiertem Gemüse und Kartoffelpüree entschieden hatte. Rinderroulade habe er früher so gerne gegessen, wäre aber seit Jahrzehnten nicht mehr dazu gekommen. Bernhard glaubte ihm das nicht ganz. Er hatte eher den Eindruck, dass ihm der Preis dann doch etwas den Appetit verdorben hatte. Er tröstete sich dann mit Medaillons vom Seeteufel, Parmesansauce und Zucchinitagliatelle mit Salbei. Als der Kellner ihre Wahl aufnahm, informierte er auch Julia, dass Kurkuma eine dem Ingwer verwandte indische Gewürzpflanze sei, der besondere Heilkräfte innewohnten. Im Kurkumareis würde normaler Langkornreis mit Zwiebel, Butter, gerösteten