Jahre mit Camilla. Helmut H. Schulz

Jahre mit Camilla - Helmut H. Schulz


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Ich kannte ihn durch meinen Vater.

      «Aber warum bin ich ein typischer Deutscher?»

      «So, etwas ist schwer zu erklären», sagte der Physiker, der im Institut in Serpuchow arbeitete.

      «Was ist das Schönste im Leben, Jewgeni Andrejewitsch?»

      Der große Augenblick einer Entdeckung, einer Erkenntnis, um die man, jahrelang gerungen hat, dachte ich.

      «Zweifellos, eine Frau zu umarmen, aber sag das nicht weiten», er lachte grimmig, «du kannst es übrigens ruhig erzählen. Es ist ohnehin bekannt genug. Du bist eben doch ein typischer Deutscher.»

      Wir standen auf meinem Flur, und dort fiel mir dieses Gespräch mit, dem Physiker wieder ein.

      Camilla brachte einen winzigen Koffer mit. Sie gab mir verlegen die Hand.

      «Zeig mir deine Wohnung», sagte sie.

      Sie trug ein Kleid und hohe hässliche Stiefel wegen des schlechten Wetters. Ihr kleiner Koffer stand auf der Diele, und ihr Mantel hing triefnass am Garderobenhaken. Aus der Küche hörte man das Summen des Wasserkessels.

      «Du wohnst sehr hoch über der Stadt», sagte sie, «ist das dort drüben Karlshorst?»

      «Ja. Möchtest du dich umziehen? Ich könnte inzwischen den Tisch decken.»

      Sie nickte und schüttelte den Kopf.

      «Den Tisch deck ich.»

      Während sie im Badezimmer duschte, überprüfte ich die Vorbereitungen, die ich für ihren Besuch getroffen hatte. Dann hörte ich sie in der Küche wirtschaften.

      Es wird keinen Zweck haben ihr Hilfe anzubieten, eigensinnig, wie sie ist, dachte ich.

      Sie kam in meinem Bademantel mit einem Tablett.

      «Darf ich den anbehalten?»

      Gut in Erinnerung hatte ich ihre Neigung zur Schlamperei. Ihre Augen hatten plötzlich wieder den grünen Glanz, der mich im Sommer so gefesselt hatte. Jetzt war Herbst. Es war grau und regnerisch.

      Vielleicht gehört, sie zu den Menschen, dachte ich, um die immer etwas Sonne bleibt. Ich liebe eine bestimmte Sonne, eine Sonne, die hell ist und heiß und hoch. Ein leichter Wind muss wehen.

      Camilla suchte nach dem Essen alle Kissen zusammen und machte sich ihr gewohntes Lager auf der Couch, dort fand sie einen Lippenstift.

      «Das war Sigrid», sagte ich, «nichts von Bedeutung.»

      Wir hatten uns getrennt. Das Verhältnis war so unkompliziert gewesen, dass wir ohne Krach auseinander konnten.

      Sie nickte, als habe sie eine solche einfache Erklärung erwartet. Damit war die Sache erledigt.

      «Nun erzähl irgendwas», sagte sie, «erzähl von deinen Reisen.»

      Ich hütete mich, in den Vortragston des Sommers zu fallen.

      «Wir kamen einmal zu einer Nomadenfamilie in der Eismeerregion. Sie züchteten, Rentiere, und die ganze Familie stand versammelt, als wir aus dem Helikopter kletterten. Ich fragte einen Alten, wie er die neue Zeit finde. Wissen Sie, antwortete er, die neue Zeit ist gut, aber zu unruhig. Sie sind schon der zweite Gast in diesem Jahr.»

      Ich log frech. Diese Geschichte hatte mir Jewgeni. Andrejewitsch an einem unvergesslichen Abend erzählt. Er hatte Lachtränen in den Augen, als er sie umständlich berichtete. Ich log also, aber ich log, um sie zu unterhalten, um etwas von der Heiterkeit des Sommers herbeizuzaubern. Es war erfolglos.

      Vielleicht erzählte Jewgeni Andrejewitsch diese Geschichte besser als ich.

      Sie schwieg, dann sagte sie: «Das ist eine sehr ernste Geschichte.»

      Mir fielen keine Geschichten mehr an diesem Abend ein. Über meine Arbeit rede ich ungern. Wir hatten auch zu wenig Gemeinsames, als dass ein Austausch über alltägliche Ereignisse möglich gewesen wäre.

      «Und was hast du hier zu tun?», fragte ich.

      «Ich werde ein paar Tage in der Staatsbibliothek arbeiten», sagte sie. «Störe ich dich auch nicht?»

      Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nie mit einem Menschen auf so engem Raum zusammen, gelebt.

      «Du musst Kerzen besorgen. Und eine weiße Tischdecke fehlt dir. Es ist auch zu viel Chrom in der Wohnung» sagte sie missbilligend, «überhaupt ist alles zu nüchtern.»

      Es stimmte, ein bisschen sehr kahl waren die Wände, einfach die Möbel, ein bisschen sehr praktisch der ganze Haushalt.

      «Den Sachen fehlt die Geschichte», erklärte Camilla.

      Die Stimmung war doch anders als im Sommer.

      Es war erstaunlich, was alles in dem kleinen Koffer Platz gefunden hatte. Selbstverständlich auch die weiße Wickelschürze. Sie war immer weiß, obwohl Camilla sie häufig trug.

      Ich entsinne mich an drei Ereignisse während Camillas Besuch.

      Sonntagmorgen, Bodemuseum.

      «Museen haben den Nachteil, dass man nichts anfassen darf.».

      Ich dachte an Rickweiler aber zugleich sah ich Camilla an. Auf dem Fischland war die Erscheinung Camillas an Farben gebunden, an die leichten hellen Farben dieser Landschaft. Dennoch dachte ich an Rickweiler. Seit Camilla da war, kam ich nicht mehr zum Arbeiten. Unter Arbeit verstehe ich die Stunden geistiger Tätigkeit.

      Sie fegte ihre Hände auf einen ägyptischen Sarkophag. Einen Augenblick ohne Aufsicht, protestierte sie sofort gegen die vorgeschriebene Ordnung. Ihre Brauen waren dunkler als, das Kopfhaar, fleischig und gerade die Nase. Unruhig glitt ihr Blick über die toten Gegenstände. Sie schien enttäuscht von diesem Museum, vielleicht auch vom Verlauf des ganzen Besuches.

      Sonntagabend, Volksbühne.

      Camilla hatte eine Stunde gebraucht, um das schwarze, am Hals geschlossene Kleid anzuziehen und ihre an leichte Turnschuhe gewöhnten Füße in offenbar neue, hochhackige Schuhe zu zwängen. Nach dem Mittag hatte sie sich das Haar gewaschen und auf Lockenwickler gedreht. Ich hatte das Haar gefönt und auf ihren Nacken hinabgesehen. Als Ergebnis dieses Aufwandes stand sie jetzt auf dem Parkett im Erfrischungsraum des Theaters und trank Sekt. Eine altmodische Gemmenkette, weiße Frauenköpfe auf braunem Grund, lag auf dem schwarzen Kleid.

      Und mir wurde bewusst, dass sie morgen abreisen würde.

      Sonntagabend, zu Hause.

      Camilla sitzt steif und kerzengerade in ihrem Sessel. Der Tisch ist nicht abgeräumt worden. Zwischen Tellern und Gläsern steht die eine Kerze. In ihrem Blick mischen sich Unruhe, Erwartung und Enttäuschung. Ich beobachte sie, während ich sitze und darauf warte, dass sich Camilla ihr Lager zurechtmacht, dass sie die Kissen zusammensucht, die sie braucht, dass sie heiter und gelassen wird. Mir ist, als bewege sie die Lippen, wie im Selbstgespräch.

      «Meerteufel sind nicht giftig», murmelt sie. Ein schwacher Protest gegen diese Tage ist in ihrer Stimme.

      «Nein», sage ich, «ich glaube, sie sind nicht giftig.

      Langsam löst sie die Gemmenkette und legt sie auf den Tisch.

      «Soll ich etwas erzählen?»

      Sie schüttelt, den Kopf.

      Vor ein paar Tagen saß Rickweiler hier. Ich sehe ihn, wie er den Kopf nach hinten legt und Wodka hinuntergießt. Ich sehe den rissigen, braunen, Hals Rickweilers. Offene, wache Augen, sehe ich, seinen federnden Schritt, als wir beide das erste Mal durch die Abteilungen gingen. Ich glaube, ich halte nicht mehr lange durch, hatte Rickweiler vor ein paar Tagen gesagt. Alt werden, keine angenehme Sache.

      Beinahe alles muss sich in unserem Bereich ändern.

      Ich stehe auf und gehe hin zu Camilla. Ihre Haut schmeckt salzig. Sie rührt sich nicht. Vielleicht ist sie verheiratet? Wir haben nicht darüber gesprochen. Ihren Mann, falls es ihn gibt, stelle ich mir als einen kleinen unbedeutenden Menschen, vor, der schlank ist


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