Jahre mit Camilla. Helmut H. Schulz
ist, sich ihren Mann klein und unbedeutend vorzustellen, aber in dieser Situation kann es nicht anders sein.
Ihre Lippen sind feucht, warm und scheu. Vielleicht war die Geschichte mit der Staatsbibliothek nur ein Schwindel.
Ich streife ihr die Schuhe von den Füßen. Durch das dünne Gewebe des Strumpfes schimmert der Fuß, so wie ich ihn am Strand gesehen habe, kräftig aber nicht zu groß. Aufatmend lehnt sie sich zurück. Sie verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Unter ihren Achseln aus dem kurzärmligen Kleid heraus sehen dunkle Haarbüschel. Sie riechen nach Schweiß. Camilla nimmt mir die Brille ab. Ganz nahe sehe ich ihre Brust vor mir. Sie hebt und senkt sich ruhig. Das dunkle enge Kleid spannt sich um ihre Hüften. Sie legt ihren Kopf auf, meine Schulter, ihre Hand streichelt meinen Hals. Camillas Haut ist glatt und weich, ich habe sie um die Schulter gefasst. Meine Finger hinterlassen vier weiße Flecken auf ihrem Oberarm, die sich nur allmählich wieder mit Blut füllen. Mit beiden Händen streiche ich ihr Haar fest nach hinten. Ihr Gesicht müsste jetzt einen harten Ausdruck haben, etwas Strenges müsste darin sein, aber nichts kann die Unbestimmtheit, das Unfertige dieses Gesichtes stören. Das Licht brennt herunter. Es ist dunkel, als Camilla ihre Sachen nimmt und ins Nebenzimmer geht.
Ich weiß jetzt, dass Camilla schwer ist. Ich weiß jetzt, dass ihr Körper bitter ist. Ich weiß jetzt mehr von Camilla. Ich liege und sauge an der ausgegangenen Pfeife, zu faul, um ins Badezimmer zu gehen.
Das Deckenlicht flammt auf. Camilla steht im Türrahmen und schleift die Steppdecke hinter sich her.
«Ich kann nicht einschlafen.»
Antwort wartet sie nicht ab. Sie knipst das Licht aus und legt sich neben mich. Sie nimmt den Platz auf meiner Schulter ein, als hätte ihr Kopf immer dort gelegen, als hätte sie jetzt einen dauernden Anspruch darauf. Ich liege still und starre an die Decke, Lichtreflexe spielen auf dem kalkigen Weiß.
Sie ist eingeschlafen. Ihr Atem verrät es. Vorsichtig ziehe ich die Decke um ihre Schultern.
Sie verlängerte ihren Aufenthalt um drei Tage. Camilla ist einundzwanzig, ich bin einunddreißig.
Hören Sie, hatte ich dem Soziologen gesagt, könnten Sie nicht woanders schreiben? Es stört. Und er hatte geantwortet: Ja, richtig, Sie sollen Besuch haben.
Camilla las viel an diesen stillen Abenden. Während sie in dem einen Buch blätterte, las sie in einem anderen.
«Warum hast du keine Belletristik, Robert?»
«Ich kann nichts an Romanen finden», sagte ich, «die meisten sind auch zu lang.»
Sie überlegte. «Wir verwenden viel Zeit darauf, Faktenwissen zu vermitteln, und wenig, das Gemüt zu erziehen», erklärte sie streitbar.
«So ist es», sagte ich, «und trotzdem gibt es noch immer zu wenig Autos, Maschinen, Konsumwaren, während an Gefühlen kein spürbarer Mangel ist.»
Camilla hat keinen Sinn für Ironie. Ihre Ironie ist boshaft, sie verletzt.
«Und deshalb kannst du auch keine Geschichten erzählen», fuhr sie fort. «Geschichten kann man nur über Menschen erzählen, nicht über Autos, Maschinen, oder Konsumwaren.»
Und darüber ärgerte ich mich nun doch, weil ich mir große Mühe gab, gut zu erzählen. Nicht jeder kann seine Geschichten vorspielen wie Jewgeni Andrejewitsch.
Sie hatte einen neuen Einfall. «Wollen wir Schule spielen?» Entzückt von diesem Gedanken, sprang sie von der Couch.
«Da Sie schon recht große Jungen sind, dürfen Sie nun einmal in das Hauptwerk der deutschen Klassik sehen.»
Sie ist überspannt, dachte ich.
«Nehmen Sie ein Blatt Papier heraus.»
Ich tat ihr den Gefallen, ich spielte mit.
«Nun schreiben Sie sich drei Fragen auf, die Sie beantworten sollen. Was ist ein faustischer Mensch? Worin liegt die Grundidee des ersten Teiles? Für den zweiten Teil dürften Sie geistig noch kaum gerüstet sein. Die dritte Frage erlasse ich Ihnen also zunächst. Mündlich bitte. Doktor Kalender. Stellen Sie sich ordentlich hin.»
Sie stelzte auf und ab. Ich sah zu.
«Nun? Du bist langweilig.» Auffordernd sah sie mich an. «Ein Mensch ringt um Erkenntnisse. Da er sie aus sich selbst heraus nicht findet, geht er einen gefährlichen Pakt ein, eine Handlung, die dem Spießer ewig unerklärlich bleibt.»
«Eine riskante wissenschaftliche Karriere», gab ich zu bedenken, «der Zweifel an einer Möglichkeit, die erbarmungswürdige Welt zu verändern, qualifiziert sich zum Genusskult, zum Privileg einer sozialen Elite. Schließlich gibt der Forscher seinen Auftrag ganz preis.»
«War das eine Selbstanalyse?», fragte sie hintergründig.
Es war kein Spiel mehr. Sie stellte einen Zusammenhang her zwischen Konsum, Maschinen, Genuss und politischem Verzicht, der mir gegen den Strich ging. Ich rettete mich in die Geschichte: «Das müssen kümmerliche Zeiten gewesen sein. Dein Forscher hätte sich mehr mit der Naturwissenschaft beschäftigen sollen.»
«Das hat er ja», beharrte sie. «Er suchte den Schlüssel zur Weltveränderung über, den Pakt. Unglaublich. Schreiben Sie, Kalender ist unmöglich.»
Ich schrieb. Sie las das Blatt und sah mich an.
Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Zärtlichkeit glitt über das Gesicht.
Ich hatte geschrieben: Robert Kalender liebt Camilla Veerden.
«Das ist eine schöne Bescherung», murmelte sie. «Geben wir es auf.»
Aber sie kam auf mich zu. Es waren vielleicht drei Schritte. Sie brauchte lange, bis sie vor mir stand.
«Du hast mich vom ersten Tag an geliebt», sagte sie, «gib es zu.»
Es stimmte.
«Warum?»
Hier hörte die Logik auf. Leider. Hier begannen jene Beziehungen, von denen Jewgeni Andrejewitsch behauptet, sie seien das Schönste im menschlichen Leben. Eine logische Erklärung fiel mir nicht ein. Und was hätte sie genutzt? Ohnehin war an diesem Abend genug geredet worden.
«Mach das Licht aus», sagte sie.
«Warum? Du gehst doch auch an den FKK-Strand?»
«Das ist etwas anderes», erklärte sie. «Du, ich glaube, mir fehlt das Zeug zum Lehrer.»
Aus Camilla kann niemand klug werden.
Diese Tage fanden ihren Abschluss: ein rechteckiges Fenster in einem Eisenbahnabteil. Das Fenster ist heruntergelassen. Auf dem Bahnhof Lichtenberg brennen trübe Funzeln. Camilla wischt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Hand stockt. Es ist, als besinne sich die Hand, als habe sie ein eigenes Leben unabhängig von Camillas Willen. Ich weiß, dass ich in fünf Minuten allein sein werde.
«Morgen musst du den Kühlschrank abtauen», sagt sie.
Ich denke: Kann man mit ihr leben?
Wir starren beide auf die Bahnhofsuhr.
Der Zug fährt an. Camilla steht am Fenster. Sie winkt nicht. Winken ist so sinnlos. Sie beugt sich vor.
Noch lange, nachdem, der Zug den Bahnhof verlassen hat, sehe ich ihr weißes Gesicht.
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