Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt

Ein Fall von großer Redlichkeit - Peter Schmidt


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Blick über die Häuserdächer und kahlen Parkanlagen glitt, kam ihm die Idee, sich zu erkundigen, was Julia veranlasst hatte, in den Osten zu gehen. Es war eine eher beiläufige Frage.

      Ihre Reaktion irritierte ihn.

      „Weißt du … es wäre zu kompliziert, dir das alles – lass uns ein andermal darüber reden.“

      Er hatte geglaubt, ihre Gründe seien ganz ähnlich wie seine.

      „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

      „Lass uns etwas trinken gehen“, schlug sie vor. Ihre Stimme klang rau. „lm Merkur nahe beim Hauptbahnhof bekommt man um diese Zeit immer einen Platz.“

      Es war das beste Hotel der Stadt, ein gigantischer Bau, innen voller Marmor, getöntem Glas und Chrom. Papst wunderte sich ein weiteres Mal, welchen Standard man trotz aller armseligen, dunkel patinierten und abbröckelnden Fassaden aus der wilhelminischen Zeit zustande brachte, wenn man, wie er an den Gästen bemerkte, auf westliche Devisen aus war.

      Die Preise an der Bar glichen denen von London oder Paris.

      Zum Glück hatte er sich bereits mit genügend Ostmark eingedeckt. Es war das einzige, was ihm Schröder mit beschwörender Stimme ans Herz gelegt hatte:

      „Lassen Sie sich um Gottes willen nicht dazu verleiten, Ihre Westmark schwarz auf der Straße zu tauschen, falls Sie angesprochen werden. Auch wenn der Umtauschkurs wesentlich günstiger ist. Es würde Sie unweigerlich in größte Schwierigkeiten bringen.“

      Er war sehr bedacht darauf, dass Papst es ihm hoch und heilig versprach. Schon der bloße Gedanke an diese Komplikation schien seine gewaltigen Fleischmassen in nervöses Zittern zu versetzen.

      „Sieh dir diese Mädchen an“, flüsterte Julia an der Bartheke. „Es sind sozialistische Huren, die auf reiche Westler warten. Ihre Hochsaison ist während der Messewochen.“

      Papst wandte den Kopf. Die beiden Mädchen am anderen Ende der Theke taxierten ihn; das Gesicht des einen verzog sich zum Lächeln. Sie saßen ohne Begleitung da und nippten an ihren Gläsern.

      „Was denn – ich dachte, so was sei im Sozialismus aus der Mode gekommen?“

      Eine der beiden, sie war mager und rothaarig, starrte dümmlich über seinen Kopf hinweg.

      „Gewöhnlich schon.“

      „Warum hast du mich hierher gebracht?“

      „Einfach, um dir einen Gefallen zu tun.“

      „Mit diesen Mädchen?“

      Sie blickte weg – wandte ihm aber wieder das Gesicht zu, als er schwieg. „Du sollst nicht glauben, es sei schwierig, hier Kontakte zu knüpfen, wenn dir danach ist.“

      „Wenn mir danach ist?“ Er griff hart nach ihrem Arm. „Wer hat dich dazu beauftragt? Es war Felder, nicht wahr?“

      Sie zuckte die Achseln, dann nickte sie.

      „Sehr unklug von ihm.“

      „Man glaubt, du seiest vom Westen her gewisse Verhältnisse gewohnt“, sagte sie unwillig. „Felder wollte nur, dass du dich wohl fühlst. Nichts weiter.“

      5

      Es war Papsts Wunsch, einige soziale Einrichtungen zu besuchen, als man ihn fragte, wofür er sich im anderen Deutschland besonders interessiere, und so wurde er von Julia nach Telefonaten Felders an ihren freien Vormittagen in eine polytechnische Schule, einen kleinen Vortrag über das Bildungssystem und eine Kinderkrippe geführt.

      Am meisten beeindruckte ihn die liebevolle Art, mit der kleine Kinder untergebracht waren. Sie lebten dort ganztags in überschaubaren Gruppen, von jeweils einer Erzieherin betreut. Um die Mittagszeit wurden Klappbettchen in den Spielraum gestellt, und da es „Schlafstempelchen“ in ein Heft gab, auf die sie sehr versessen waren, tobte keines der Kleinen während der Mittagsruhe herum, sondern alle kniffen fest die Augen zu.

      Den Älteren merkte er ein Gefühl gemeinsamer Anstrengung an – mochten sie auch für solche Besichtigungen ausgewählt sein. Die Stimmung des Aufbruchs war vielerorts verbreitet.

      Es überraschte ihn ein wenig, endlich zu finden, was er sich vorgestellt hatte …

      Einige traten ihm sogar mit ungewöhnlicher Herzlichkeit entgegen.

      Dass jemand aus dem Westen kam, schmeichelte vielleicht ihrem Selbstwertgefühl. Gewiss würde es wie überall auch hier Misstrauen, Missgunst, Arbeitsunlust und Desinteresse geben. Ihre Sorgen um die wechselseitige Aufrüstung und die Angst vor dem Gegner klangen aber auf dieser Seite genauso glaubwürdig wie drüben.

      Ehe er zur Bibliothek fuhr, stellte er für Heddas Kinder ein kleines Paket aus thüringischem Holzspielzeug zusammen; Wägelchen und Reiter, die noch nach frischer Farbe und Leim rochen. Er packte es in einen vorbereiteten, adressierten Karton und gab es gleich zur Post. Er legte einige Zeilen dazu:

      „Ankunft wie erwartet. Keine besonderen Vorkommnisse. Wolfhard.“

      Sicher interessierte es sie wenig, oh es besondere Vorkommnisse gab oder was er trieb, und sie würde den Zettel achtlos wegwerfen. Trotzdem fühlte er sich zu einem Lebenszeichen verpflichtet.

      Danach aß er in einem kleinen Kellerlokal der Altstadt zu Abend.

      Am Vortage hatte er, als er mit der Gabel auf ein Salatblatt schlug, aus der kalten Platte, die man frühen Abendbrotgästen im Hotel servierte, einen Kakerlak laufen sehen – und danach noch einen, der eilig die waagerechte Leiste einer spanischen Wand entlang rannte.

      Er erinnerte sich, in der Hotelhalle jemanden seinen Nachbarn fragen gehört zu haben, ob es auf seinem Zimmer auch nach Insektenvertilgungsmitteln rieche. Die Antwort war, dass der Kammerjäger im Haus unterwegs sei.

      In einem westlichen Hotel hätte er wegen dieses Vorfalls sicher sofort den Küchenchef gerufen; doch hier war es ihm peinlich, wenn sich der Mann vor jemandem aus dem Westen eine Blöße gab. Immerhin verdarb es ihm so weit den Appetit, dass er auf eigene Kosten in einem anderen Restaurant aß.

      Das Essen war gut und preiswert; von der Schwierigkeit, einen freien Tisch zu finden und den langen Wartezeiten abgesehen. Selbst die Rechnung wurde zu einem bislang unbekannten Hindernis auf dem Wege ins Freie. Es schien, als sei das Kassieren eine besonders lästige Arbeit. Ein Trinkgeld nahm man aber gerne an. In Zukunft würde er einige Arbeitspapiere einstecken, damit die Zeit nicht so lang wurde.

      Felder hatte ihm einen Ausweis beschafft, der ihn zur Ausleihe sämtlicher Werke aus dem Magazin berechtigte, auch jener, für die man gewöhnlich eine Sondergenehmigung benötigte.

      „Es wird Ihre Arbeit erleichtern, aber machen Sie um Gottes willen keine Reklame damit. Und lassen sie ihn oder die Bücher nicht unbeobachtet auf den Tischen liegen“, hatte er ihm ans Herz gelegt.

      Als Papst die Stufen des Bibliothekseingangs nahm, warf er einen spöttischen Blick zu den goldenen Lettern über dem Portal hinauf, denn sie lauteten:

       Freie Statt

       Für freies Wort

       Freier Forschung

       Sichrer Port

       Reiner Wahrheit

       Schutz und Hort

      Es würde wohl noch eine Weile dauern, ehe sich dieser hohe Anspruch uneingeschränkt erfüllen ließ. Aber momentan brannten ihm solche Ungereimtheiten weniger auf den Nägel als früher, denn das Neue Deutschland hatte in einem Leitartikel „weitere Freiheiten beim Bezug ausländischer Buch- und Zeitschriftenpublikationen“ angekündigt.

      Schon das Eingeständnis, dass es diese Freiheiten bisher nicht gegeben hatte, musste als eine kleine Sensation bewertet werden. Es bestätigte nur den erstaunlichen Wandel in der Politik der letzten Monate.

      An


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