Ein Fall von großer Redlichkeit. Peter Schmidt
Problem gab es im Garderobenraum, da die einzige Bedienung, eine resolute, magere Frau, den Leserandrang kaum bewältigen konnte und schimpfend verlangte, man solle nicht hintereinander stehen, sondern sich an der Theke verteilen.
Dann befahl sie militärisch barsch jedem „Abholen“, seine Kleidermarke vor sich auf den Tisch zu legen.
Sie sammelte sie ein, ordnete sie nach der Zahlenfolge und brachte so mit wenigen Schritten einen Arm voller Kleider, aus denen sich jeder sein Teil herausziehen musste ...
Es war immer das gleiche entwürdigende Spiel; man ertrug ihre Unhöflichkeiten lächelnd und ohne Protest.
Als Papst seine Unterlagen von der Magazinausgabe geholt und sich an seinen Platz nahe der Holztreppe gesetzt hatte, den er seit zwei Tagen belegte, entdeckte er plötzlich einige Tischreihen entfernt eine bekannte Gestalt.
Kein Zweifel ... schließlich war er wochenlang Nacht für Nacht mit ihm unterwegs gewesen. Er beugte sich vor und fuhr sich ungläubig mit der Hand über die Augen – dieselbe farblose Haut eines Albinos, die wimpernlosen Augen, das strohblonde, glatt zurückgekämmte Haar – Alex Margott!
Der andere saß in der entgegengesetzten Saalhälfte und kehrte ihm das Gesicht zu. Er las in einem Buch. Es sah so aus, als habe er Papst noch nicht bemerkt. Ein Stapel anderer Bücher und Unterlagen, in die er ab und zu etwas notierte, lag vor ihm.
Papst erhob sich ungläubig; er ging eilig durch den Mittelgang auf ihn zu. Seine schnellen, lauten Schritte erregten Aufmerksamkeit. Einige Lesende hoben missbilligend die Köpfe, und er verlangsamte seinen Gang.
Als er nur noch wenige Meter von Margotts Tisch entfernt war, blieb er stehen, denn der andere blickte langsam auf. Papst wollte etwas sagen, doch Margotts ausdrucksloser Blick glitt über ihn hinweg, streifte die regungslose blau gekleidete Frauengestalt am Aufsichtspult – und kehrte zu seinen Unterlagen zurück.
„Hallo.“
Der andere schien nichts gehört zu haben. Er trug denselben ungepflegten, an den Taschen und Umschlägen speckig glänzenden Anzug, den sein Bruder bei der Beerdigung getragen hatte.
Doch sein Gesicht wirkte um einige Jahre jünger … wenn Papst auch, je länger er es im Lichtkreis der rötlichen Leuchtstoffröhre betrachtete, Zweifel kamen. Immerhin war es nicht ganz so jung wie das seines verstorbenen Freundes – als sei es künstlich gealtert.
„Alex ...?“
Der Mann vor ihm hob noch einmal den Blick. Er sah erst ihn, dann fragend seinen Nebenmann am Tisch an, der ohne etwas zu bemerken weiterlas, und erkundigte sich: „Sprechen Sie mit mir?“
„Ich dachte, wir kennen uns.“
„Oh, tatsächlich?“ Seine Aussprache hatte einen kaum merklichen sächsischen Akzent. „Nein, bedaure.“
Es ist Alex‘ Bruder, dachte Papst enttäuscht. Offenbar hatte er sich in den wenigen Wochen seit dem Tode seines Bruders stark verändert.
So etwas kam vor. Dass er Papst von der Beerdigung her nicht wiedererkannte, musste nichts zu besagen haben. Unter solchen Umständen war es verständlich, wenn man die Gesichter von Trauergästen vergaß.
„Bitte, entschuldigen Sie“, flüsterte er und kehrte an seinen Tisch zurück.
Während er in Lenins „Die Basis der sozialistischen Revolution“ blätterte, irrten seine Gedanken ah. Doch so oft er auch prüfend zu Margott hinübersah – ihre Blicke trafen sich nie …
Papst versuchte sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, aber die Gestalt dort drüben hinter dem Bücherstapel ließ ihn nicht mehr los. Gewaltsam zwang er sich, eine Textpassage zu analysieren …
Sie handelte davon, dass die Kommunistische Partei Arbeiter und Bauern an den entscheidenden revolutionären Kampf heranführte.
Der ausschlaggebende Impuls ging von den Ideologen aus. Es kam darauf an, dass die Partei, nach Lenin, eine angemessene Form des Übergangs ausfindig machte.
Das Mittel der Gewalt und des Krieges musste nach seiner Überzeugung die Revolution in den Augen der übrigen unterdrückten und ausgebeuteten Welt diskreditieren und war wenn möglich zu umgehen. Daher propagierte er eine Übernahme des Machtapparats mit anderen Mitteln …
An dieser Stelle hielt Papst inne. Es war eine höchst unglaubwürdige Formulierung. Er wühlte in dem Stapel Bücher, die er sich nach Felders Liste aus dem Magazin besorgt hatte, und nahm die Arbeit Sozialismus und Krieg zur Hand, wo sich der Satz fand:
„ …dass wir die Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit Von Bürgerkriegen voll und ganz anerkennen ...“
Auch an anderen Stellen vertrat Lenin die Überzeugung, eine „gewaltsame Revolution“ sei unausweichlich, so schon in der Schrift „Eine rückläufige Richtung in der russischen Sozialdemokratie“ aus dem Jahre 1899. Nur in seltenen Fällen seien friedliche Veränderungen denkbar, beispielsweise „in einem kleinen Staat, nachdem im großen Nachbarstaat die soziale Revolution gesiegt hat“. Viel wahrscheinlicher sei es allerdings, „dass auch in den kleinen Staaten der Sozialismus nicht ohne Bürgerkrieg verwirklicht wird“.
Das Mittel der gewaltlosen Übernahme war also eine Fälschung, wollte man nicht annehmen, Lenin habe seine Ansichten zunächst gegenüber früheren und dann wieder in den späteren Schriften geändert. Es war eine Auffassung, die sich der orthodoxen Lehre von Marx und Engels annäherte, wonach zumindest in England und Amerika eine friedliche Übernahme der Macht denkbar sei.
Hingegen fand sich in einem Brief Marx‘ an Kugelmann der Hinweis, es gehe nicht darum, „die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“.
Hatte Rittmaiers Schwiegersohn möglicherweise nichts weiter beabsichtigt, als diese Widersprüche zu glätten?
Es würde, wie Felder ganz richtig behauptete, nur durch eine sprachvergleichende Untersuchung zu klären sein. Dazu war es notwendig, Satztypen zu klassifizieren, sie nach ihrer Häufigkeit zu ordnen und sie mit Hilfe einer komplizierten Methode zu gewissen Wendungen und Wortarten in Beziehung zu setzen. Eine Arbeit, die Wochen dauern konnte.
Papst machte sich lustlos ans Werk.
Er beobachtete, dass Margott sich jetzt öfter erhob und einzelne Bücher austauschte, nachdem er kurz mit ihnen gearbeitet hatte. Manchmal ging er eine der vier hölzernen Treppen zur Galerie hinauf, blätterte für Augenblicke in einem Band und stellte ihn zurück. Er schien in der Hauptsache den Buchbestand des Lesesaals zu benutzen.
Einmal stand er oben an der Balustrade und sah lange und nachdenklich auf die Lesenden herab.
Als es kurz vor Bibliotheksschluss war, brachte er einige Bände ins Magazin zurück und ließ sie dort unter seinem Namen ablegen. Die Abgabetheken in der Vorhalle waren nach Bereichen aufgeteilt: auf der linken Seite A bis K, rechts L bis Z. So kam es, dass sie sich wegen der Anfangsbuchstaben ihrer beiden Namen an derselben Abgabe begegneten.
Papst hatte das Gefühl, Margott schaue durch ihn hindurch, als er sich von der Theke abwandte; selbst jetzt, nach dem Zwischenfall im Lesesaal, war es, als seien sie sich völlig fremd, und er habe die kurze Episode längst vergessen.
Er holte seinen Mantel aus der Garderobe und folgte Margott die Straße des 18. Oktober entlang.
Der andere ging in Richtung auf das Völkerschlachtdenkmal, hinter dem der Südfriedhof lag. Die Gegend war verlassen, außer ihnen beiden konnte er niemanden entdecken, nicht einmal ein Auto fuhr.
Papst ließ den Abstand größer werden, um nicht aufzufallen. Irgendetwas veranlasste ihn, der schäbigen vorgebeugten Gestalt immer weiter zu folgen …
Dunst breitete sich unter den wenigen rötlichen Straßenlampen aus. Er verpasste die Bordsteinkante und es gab ein schepperndes Geräusch, als sein Fuß abglitt und er auch noch auf eine leere Dose in der Rinne trat …
Doch Margott blickte sich nicht um. Kalter Wind kam aus den