Begnadet - Buch 1-2. Sophie Lang
Art, wie wir uns begegnen, ist für mich komplett neu. Ich scheine mich auf Anhieb mit ihr zu verstehen. Oder sie sich mit mir. Ungewöhnlich, aber es fühlt sich echt an.
»Ist heute tatsächlich dein erster Tag?«
»Ja.«
»Aeia, pass auf. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin etwas in Eile. Wenn du Lust hast, dann treffen wir uns heute Mittag in der Mensa und ich stell dir ein paar meiner Freunde vor? Aber jetzt muss ich los, meine Mitarbeiter und Studenten warten schon auf mich und du solltest dich auch beeilen. Es wird nicht gern gesehen, wenn man zu spät kommt. Vor allem nicht am ersten Tag.« Das sehe ich genauso und ich nicke.
»Hast du deinen Arbeitsvertrag denn schon unterzeichnet?«
»Ja«, mit meinem Blut, will ich ergänzen, lasse es aber sein.
»Und auch eine Anfertigung ans Institut geschickt?«
Ich bestätige auch das.
»Mit welchem Finger hast du ihn besiegelt?«, will sie wissen und ich zeige ihr meinen rechten Daumen.
»Gut, drücke ihn hier drauf«, sagt sie und zeigt mir eine kleine unscheinbare Glasplatte auf dem linken der beiden riesigen Türflügel. Sie ist eingebettet in ein Ornament, das sich, bei näherem Betrachten, als abstrakter Schmetterling entpuppt.
Ich höre, wie sich schwere Riegel zur Seite schieben. Als der Letzte in seiner Endposition einrastet, vibrieren die Türflügel wie bei einem kleinen Erdbeben, um dann majestätisch auseinander zu schwingen.
Fast schon zwanghaft erinnere ich mich an die Tore von Moria aus Der Herr der Ringe Saga. Dort sagte Gandalf das Wort Mellon (Freund auf elbisch), damit sich die Tore öffneten. Hier wird ein Freund an seinem Fingerabdruck erkannt. Andere Welt. Andere Zeit. Wobei Fingerabdrücke, bei den Möglichkeiten der hochauflösenden Fotografie, doch gar nicht so sicher sind, weiß ich aus dem Fernsehen, aber schon schlüpfe ich hinter Luise ins Innere. Die mächtigen Türen schließen sich wie von Geisterhand, nachdem wir sie passiert haben.
Sie wendet sich mir zu. »Weißt du, wo du hin musst?«, fragt sie.
»Nein, nicht so genau«, gestehe ich. »Die Bewerbung und der Vertrag liefen ausschließlich schriftlich ab. Ich habe nicht einmal jemanden gesehen. Das Einzige, was ich weiß, ist die Adresse, das heutige Datum und die Uhrzeit.«
»Das ist alles, was wir brauchen. Und glaub mir, DIE, wie du sie nennst, haben dich schon gesehen. Vermutlich schon lange bevor du überhaupt wusstest, dass es DIE und das Institut überhaupt gibt. Nichts wird hier dem Zufall überlassen und schon gar nicht die Auswahl, wer dazu gehört und wer nicht. Komm, ich zeige dir, wie du zu deinem Professor findest.«
Wir stehen in einem Raum, der einen Halbkreis beschreibt. Hinter uns befinden sich die Eingangstüren und noch eine Glasplatte mit Schmetterling. Mein Fingerabdruck wird auch nötig sein, wenn ich das Institut wieder verlassen will. Vor uns befinden sich drei Fahrstuhltüren. Jede gleicht der anderen bis ins kleinste Detail. Luise führt mich zu einem Touchscreen, der vor den Fahrstühlen auf einem drehbaren Sockel montiert ist. Die Büste des Gründervaters des Instituts hätte hier auch gut hingepasst.
Mit ihrem Daumen (langsam gewöhne ich mich an dieses genetische Kennwort, welches alle Schlüssel, Chipkarten und Passwörter ersetzt) erweckt sie den Monitor zum Leben. Er ist riesig und dann erklingt eine Stimme: »Guten Morgen Dr. Kleist, es ist 8:23 Uhr. Sie sind heute spät dran.«
Doktor? Ich schrumpfe neben Lu, neben Dr. Luise Kleist, um mindestens zehn Zentimeter.
»Guten Morgen, Eve. Ich bin in Begleitung.« Dr. Luise Kleist schaut mich mit ihren blauen Augen an. »Aeia und wie noch?«
»Engel«, höre ich die unverwechselbare Stimme aus den Lautsprechern meinen Nachnamen sagen.
Dann sieht Dr. Kleist auf den Monitor und runzelt die Stirn.
»Seltsam, Eve kennt dich bereits. Ich bin überrascht. Warst du schon einmal bei TREECSS?«
»Nein.«
»Mhm, wirklich komisch. Engel also? Dein Nachname ist Engel?«
Ich nicke.
»Was für ein schöner und treffender Name«, sagt sie und wendet sich dann wieder dem Monitor zu. »Also Eve, hör mir zu. Würdest du bitte Aeia Engel an ihrem ersten Tag helfen, sich zurechtzufinden?«
»Selbstverständlich Dr. Kleist, ich stehe Frau Engel zu Diensten.«
»Danke Eve.«
»Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«
Lu nickt. »Danke.« Dann schenkt sie mir ihr makellos weißes Lächeln und sagt: »Ihr Kommunikationsverhalten muss ich unbedingt verbessern. Sie ist noch etwas hüftsteif.«
Sie meint das Computerprogramm. Wow, hat sie das etwa programmiert?
»Eve ist eine KIF«, erklärt Dr. Luise Kleist weiter.
Ich nage auf meiner Unterlippe herum. Höre wieder damit auf, als es mir selbst auffällt. »Eine KIF?«, frage ich.
»Künstliche Intelligenz und das F steht einfach nur für Freiheit. Sie besitzt einen fünfzigprozentigen Freiheitsgrad für Emotionen und Lernfähigkeit. Die zweite Hälfte wird durch determinierte Programmcodes gesteuert, die vor allem ihr soziologisches Verhalten und ihre rationalen Entscheidungen kontrollieren.«
»Hört sich kompliziert an«, sage ich flugs.
Lu muss lachen. »Ja, irgendwie schon. Irgendwie aber auch nicht. Sie wird dir auf alle Fälle helfen. Wir sehen uns dann gegen 12:00 Uhr in der Mensa, Okay? Bin gespannt auf deine ersten Eindrücke, Aeia.«
»Okay«, sage ich langsam. Meine ersten Eindrücke sind bereits jetzt schon heftig. Aber Dr. Luise Kleist gegenüber werde ich mich wohl gewählter ausdrücken müssen.
»Ciao Aeia«, lächelt sie zum Abschied. Ich lächle auch, wenn auch bestimmt nicht so perfekt. Lu befiehlt mit ihrem Fingerabdruck einen Fahrstuhl herbei und dann ist sie auch schon in dem Gebäude abgetaucht. Ich gehe auf den riesigen Monitor zu und räuspere mich, bevor ich mich vorstelle.
Aeia - KIF
»Hallo«, sage ich zu dem Monitor und weiß nicht recht, ob ich einfach auf den Bildschirm schauen soll oder in das Mikro, das ich nicht finden kann.
»Hallo Frau Engel.«
»Muss ich jetzt meinen Daumen irgendwo hindrücken, damit Sie mich erkennen?«, frage ich.
»Ich bin Eve. Niemand spricht mich mit Sie an.«
Das ist nicht die Antwort, die ich erwartet habe.
»Dann bin ich einfach nur Aeia. Gleiches Recht auf beiden Seiten.«
Stille.
»Hallo Aeia.«
»Hi Eve. Und? Muss ich jetzt meinen Daumen irgendwo hindrücken?«
»Das ist nicht nötig, es befindet sich genügend organisches Gewebe von dir in diesem Raum, um dich zu identifizieren, Aeia.« Das hört sich seltsam an, wie die KIF mit mir spricht. Organisches Gewebe, um mich zu identifizieren? Es steckt wohl doch mehr hinter dem Sicherheitssystem, als nur ein simpler Fingerabdruck.
»Eve?«, frage ich.
»Ja, Aeia?«
Bilde ich mir das nur ein? Oder hat die KIF wirklich Spaß daran, meinen Vornamen auszusprechen?
»Heute ist mein erster Tag und ich muss wissen, wo ich hin muss, wie ich dort hinkomme und wie ich dann von dort zur Mensa komme«, sage ich und überlege kurz, ob diese geschachtelte Frage vielleicht zu viel für ein Computerprogramm ist?
Aber meine Sorgen sind unbegründet, denn der Bildschirm flackert kurz auf, um die Ansicht in zwei Hälften aufzuteilen. Links sehe ich meinen momentanen Standort und darunter