Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
erster Arbeitstag. Meine Frau hat keinen „Kulturschock“ bekommen. Auch ich werde einen mächtigen Kulturschock erleiden, hieß es immer wieder im Institut in Köln. Bei meiner Entfremdung! Fehlanzeige, zumindest bislang. Tritt der Kulturschock auch dann auf, wenn der Vorgang bekannt ist und gar erwartet wird? Ist es nicht wie bei den sonstigen sozialwissenschaftlichen Prognosen? Diese treffen ja bekanntlich selten ein, weil die Menschen sich nach der Prognose angeblich anders verhalten würden, als wenn diese nicht gemacht worden wären. Na ja. Ich werde über meinen Kulturschock erst nachdenken, wenn meine Frau einen solchen erlebt hat.
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Heute bin ich erstaunt, daß ich einen ruhigen Schlaf in der ersten Nacht in Jaipur hatte. Nicht wegen des ständigen Geräusches des Ventilators in der stillen, wirklich stillen Nacht gelegentlich gestört durch das Summen von Moskitos. Sie sind zahlreich und bekanntlich beißen diese Viecher auch. Nicht die Störung der stillen Nacht, nein, ich meine etwas anderes.
Spätestens nach unserer Ankunft – ein Lebensabschnitt abgeschlossen und ein neuer noch nicht begonnen – hätte ich mir Zeit nehmen müssen, über vieles nachzudenken. Schon viel früher hätte ich mir Zeit zum Nachdenken nehmen müssen. Und auch wirklich nachdenken! Viele unübersehbare Ungereimtheiten habe ich nicht einmal wahrgenommen. Ich bin Sozialwissenschaftler, vertraut mit der Forschung über Vorurteile, vertraut mit Wahrnehmungstheorien, vertraut mit Logik und Widerspruch, dennoch erkenne ich nicht offensichtliche Widersprüche in meiner bisherigen Karriere. Ist es die den Sozialwissenschaftlern eigene Betriebsblindheit oder ist dies meine sehr spezifische Blindheit, verursacht durch den Rausch der ständigen Medienpräsenz in Deutschland nach „Farbige unter Weißen“?
Die Versuchung ist groß, mit dem heutigen Bewußtsein neunmalkluge Analysen jener Jahre der „lndischen Universität“ zu machen und alle möglichen Erklärungen zu finden. Deshalb schränke ich mich zunächst ein auf die Beschreibung der Ungereimtheiten und auf Fragen, die daraus zwingend hätten entstehen müssen, aber nicht entstanden waren. So zum Beispiel: Josef Gugler, Deutscher, in der Endphase seiner Promotion im Fach Soziologie, will den Bericht über ein internationales soziologisches Seminar selbst nicht entwerfen, überläßt die Aufgabe einem, der Ausländer ist und erst im 2. Fachsemester Soziologie studiert. Er ist mit meinem Entwurf nicht einverstanden, macht aber keinen Gegenentwurf. Nun gut! Aber bei der Abgabe, wie schon berichtet, distanziert er sich von dem Bericht auf eine subtile Weise. König hatte keine Vorbehalte. Und wir gingen zur Tagesordnung über. Hätten wir nicht zumindest fragen müssen, welche Qualität der Studiengang Soziologie eigentlich hat, wenn es zwischen einem Studienbeginner und einem mit der Promotion das Studium abschließenden keinen Qualitätsunterschied gibt. Ich weiß nicht, ob Josef Gugler diese Frage gestellt hatte. Ich weiß, daß ich diese an sich naheliegende Frage nicht gestellt habe.
Wie berichtet, gelange ich nach Beteiligung an den Veranstaltungen über die Methodologie zu der Erkenntnis, ich müßte mir selbst jene Kenntnisse aneignen, die für das „Zusammenbasteln“ des Erhebungsinstrumentes für das Unesco–Projekt erforderlich wären. Und ich tue dies mit Erfolg. Ich stelle aber nicht die Frage, welchen Wert universitäre methodologische Veranstaltungen haben, die weniger als ein Autodidakt zustande bringen.
Dezember 1960 bewilliht das Auswärtige Amt 20000,- DM für das laufende Unesco–Projekt. Das Auswärtige Amt erhält den „Unesco–Bericht“ im Herbst 1961 und fragt bei König nach, ob von einer Veröffentlichung vorläufig abgesehen werden könnte. Bevor dieser Bericht veröffentlicht ist, finanziert der WDR, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, eine zweite Untersuchung über die selbe gesellschaftliche Gruppe mit Blick auf einen weiterführenden Aspekt. Die Carl–Duisberg–Gesellschaft, eine private Einrichtung für die Betreuung der ausländischen Praktikanten, auch angewiesen auf die Unterstützung der Bundesregierung, ermöglicht die Durchführung der Untersuchung mittels eines Überbrückungskredits an ein Universitätsinstitut, auch eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, weil die Gremien des WDR nicht so schnell wie erwartet die Formalitäten erledigen.
Winfried Böll, einflußreicher Berater im BMZ, versichert noch im Oktober 1962, daß der Forschungsantrag über die „Rückanpassung“ bis Ende Januar 1963 bewilligt sein würde, welches dann nach der Veröffentlichung von „Farbige unter Weißen“ aber doch nicht bewilligt wird. Nicht 1963, nicht 1964, nicht 1965, nicht 1966. Der Antrag wird auch nicht abgelehnt. Und was tue ich? Ich befolge blind den blöden Rat von Max Weber, dem Oberguru aller Soziologen, und bohre an jenem dicken Brett, auf dem der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Entscheidung über den Antrag aussitzt. Mit Billigung von König. Auch er glaubt, wie seine wiederholten schriftlichen Äußerungen dies belegen, daß das Projekt über den „Rückanpassungsprozeß“ tatsächlich verwirklicht werden würde und ich dann auch meine Habilitationsschrift darüber verfassen werde.
Ich registriere nicht die veränderte Haltung vieler vor und nach der Veröffentlichung von „Farbige unter Weißen“. Auch dann nicht, als Winfried Böll mich durchaus wohlwollend darauf aufmerksam macht, daß ich durch „Farbige unter Weißen“ einen gefährlichen Grad an Bekanntheit erreicht hätte. Was hatte mich so blind gemacht? Hätte ich nicht erahnen müßen, daß ich als Veranlasser dieser kritischen öffentlichen Diskussion keine öffentlichen Gelder für Forschung auf diesem Gebiet zu erwarten haben würde? Hätte ich wenigstens nicht vermuten können, daß die Hochkonjunktur des Themas „Entwicklungsländer“ möglicherweise ausläuft bzw. die Politik zu diesem Thema keine weiteren Forschungen benötigt. Nein, ich habe alle diese Fragen nicht gestellt. Ich weiß nicht, ob König sich Fragen dieser Art gestellt hatte. Seine Aktivitäten deuten eher darauf hin, daß auch er die wirklichen Verhältnisse nicht überblickt hat.
Am 22. März 1963 empfiehlt mich König als Berater für das Kultusministerium des Landes Nordrhein–Westfalen und erwähnt:
„Wir planen ferner eine 3. Studie, welche eine der Hauptthesen bestätigen soll, wonach die Heimkehrer in ihren Heimatländern große Anpassungsschwierigkeiten durchzumachen haben. Bevor die erwähnte Untersuchung anläuft, stehen Herrn Dr. Aich noch einige Monate zur Verfügung, während derer er Ihnen sehr gern zur Verfügung steht.“
Am 7. Oktober 1963 werde ich zum wissenschaftlichen Assistenten an der Universität zu Köln ernannt. Mitte Juli 1965 schlägt Unnithan eine Zusammenarbeit zwischen der Universität Köln und Universität Rajasthan vor. Sie soll sich mit meinem Aufenthalt in Jaipur konkretisieren.
Am 2. September 1965 beantragt König die Verlängerung meines Vertrags. Begründung:
„Zur Begründung mache ich folgende Angaben Herr Dr. Aich hat in meinem Auftrag bereits Semester–Lehrveranstaltungen im Seminar übernommen und mit größtem Erfolg durchgeführt. Außerdem betreut er im Forschungsinstitut alle Angelegenheiten, die mit der Entwicklungsproblematik zu tun haben und ist in diesem Zusammenhang mit der Abfassung einer größeren Arbeit beschäftigt. Ich bemerke noch. daß Herr Dr. Aich ein Habilitationskandidat ist, und sich während der Zeit seiner Mitarbeit im Institut durch zahlreiche und viel beachtete Publikationen ausgezeichnet hat, so daß die Verlängerung seines Dienstverhältnisses voll und ganz gerechtfertigt ist.“
Der Vertrag wird auf weitere 2 Jahre verlängert. Aus heiterem Himmel – so schien es mir damals – schreibt mir König am 25. Januar 1966:
„Nachdem nun aber die Verlängerung Ihres Dienstvertrages mit dem Soziologischen Institut akut geworden ist, möchte ich noch einmal mit aller Deutlichkeit auf die besprochenen Fragen zurückkommen. Ich hatte von Ihnen erwartet, daß Sie im Laufe der letzten zwei Jahre Ihre Arbeit fertiggestellt hätten. ... Darum legte ich Ihnen neulich nahe, daß Sie nun möglichst umgehend irgendeine Arbeit fertigstellen, die mir zeigt, daß Sie in den letzten Jahren überhaupt etwas getan haben. ... ich erwarte von Ihnen ein Manuskript spätestens bei meiner Rückkehr aus Afrika am 20. April dieses Jahres. Das ist auch der letzte Termin. Ich möchte Ihnen jetzt schon sagen, daß ich Ihr Arbeitsverhältnis werde eingehend überprüfen müssen, wenn Sie mich nochmals enttäuschen wie in der Vergangenheit.“
Wieso hatte ich diesem so irrationalen Brief nicht schriftlich widersprochen, die unwahren Behauptungen zurückgewiesen? Wie konnte ich stattdessen binnen acht Wochen den Bericht über meine zweite Untersuchung über die politische Einstellung