Marx und Nietzsche mischen sich ein - Die heillose Kultur - Band 1.1. Dr. Phil. Monika Eichenauer
kann man sich zumindest eine kleine emotionale Probe dessen verschaffen, wie Menschen damals in inneren Konflikten langsam versackten und versandeten, weil sie wieder in die Hilflosigkeit hinein gerieten, nichts sagen zu können: Weil zum einen die Schuld, nicht gekämpft und aufbegehrt zu haben gegen die Hitlerideologie oder das sich mit ihr identifiziert zu haben und mitgemacht zu haben – wenn auch nicht aktiv als Täter – schwer auf der Seele lag. Anbetracht dieser Realität gab es nur den Ausweg: Wieder mitmachen. Man landete in Deutschland auf einer neuen Ebene kollektiven Schweigens in einer Nachkriegs-Verschworenengemeinschaft, die aufgrund des stillen Einvernehmens wieder Kraft schöpfte – natürlich in der Hoffnung, dass dieses Bündnis sich auszahlt und Vorteile bringt. Diese erfüllten sich aber für die breite Masse nicht. Für Teile der alten Gefolgschaft während der Hitlerzeit schon, wie man nachlesen kann.
Psychisch bestand aufgrund dessen die neue deutsche und unausgesprochene Vereinbarung: Nichts sehen, nichts hören, nicht sprechen – schweigen über das Nichts. Noch einmal ein Stück Opferung der Lebenskraft und Lebensenergie vor dem Hintergrund der ohnehin extrem belastenden Erfahrungen in der Hitlergesellschaft, persönlichen Traumatisierungen und Schweigen über das Erfahrene und Erlebte. Fehlende Anleitung zur psychischen Aufarbeitung – und dann das gleiche Vorgehen in der Nachkriegszeit bis heute: Aber der Groll ist geblieben.
Ebenso muss es politisch von Interesse sein, mit Blick auf die Gegenwart, wie die Deutschen gegenwärtig die politische Entscheidung zur Verarmung und Vermehrung der Armenzahlen erleben: Als einen erneuten Verrat? Dieses Deutschland mit aufgebaut und nichts davon gehabt zu haben? Wer schweigt, wird in der Regel belohnt für sein Schweigen. In diesem Falle aber nicht – oder? Diejenigen, die für ihr Schweigen belohnt wurden und werden, melden sich mit Sicherheit nicht freiwillig.
Das Schweigen, die Scham, die Traumatisierung sind Faktoren, die in jedem einzelnen Menschen in unterschiedlicher Form wie die Karten eines Kartenspiels gemischt sind. Man kann die Vielfalt der Schichten dieses psychischen Erlebens nicht eindeutig hinsichtlich ihres Wirkens in eine Richtung festlegen und sagen: So war es. Nein, vielmehr ist die Tatsache des immer noch hörbaren Schweigens der generell fehlenden emotionalen Aufarbeitung, egal in welcher Stärke und Kombination die Faktoren verteilt sind, bedenklich. Dieser immens wichtige und fehlende Teil in jedem Menschen fehlt in ganz Deutschland und spiegelt sich meiner Auffassung nach darin, das Verantwortung gerne, egal ob Oben oder Unten und egal in welcher Form, verschoben wird auf andere.
Fazit: Das missbrauchte und traumatisierte Volk, das Diktatur und Krieg noch in den Knochen spürt, dessen Narben noch längst nicht in Gänze gesichtet und schon gar nicht psychisch behandelt oder gar verheilt sind, bekommt zu hören: Nichts von dem neu Aufgebauten ist euer – sei es Arbeit, Rente, Lebensperspektive, Ausbildung der Kinder.
Ein Volk, das den Opferstatus mittels Scham bewahrt, kann man ganz leicht wieder in Unterordnungshaltungen hineinführen. Damit sie noch mehr tragen und schleppen und bezahlen und verzichten. Damit die Wirtschaft noch mehr verdient. Die Deutschen werden wieder von Deutschen in existenzielle Nöte gezwungen. Das ist der neue Krieg, der als solcher verschleiert und über den angepasst geschwiegen werden soll. Doch Unruhe, Unsicherheit, verhaltene Wut und Empörung sind aus verschiedenen Publikationen herauszulesen, in TV- und Hörfunk-Reportagen zu erkennen. Das ist tröstlich. Es rumort und arbeitet unter der Oberfläche. Was fehlt ist das Gefäß, in dem diese Gefühle gesammelt werden und zusammenfließen können, um zu einer positiven Kraft zu werden. Dieser reflektierende Geist der Mundaufmacher in Deutschland, soll in diesem Buch beschrieben und benannt werden, und zwar im Sinne eines „Sich zusammen hören“, wie Peter Sloterdijke es einmal formulierte, so dass sich der Wertegeist für Menschlichkeit und generell Leben gegenseitig stärkt. Es kann nicht mehr primär um Schuldzuweisung und Verurteilung gehen – das breite Schweigen – aus welchen Gründen auch immer – haben sicherlich viele Schuldige und Täter ungeschoren davon kommen lassen. Zu sagen, dass dies gewollt gewesen ist, lässt sich sicherlich aus dem Schweigen ablesen. (Denn: Es hätte und hat sowieso keiner zu- oder hingehört! Man wollte nicht mehr wissen, was da passiert ist. Hätte man gesprochen, hätte es leicht passieren können, als Neider oder Denunziant dazustehen. Ich war noch zu klein und deshalb kann ich hier keine Namen nennen, die mein Großvater von Personen nannte, die nach dem Krieg wieder mit Rang und Namen in der Gesellschaft lebten, wie zuvor in der Hitlerzeit. Diese Davongekommenen werden ihr Leben lang Angst gehabt haben – und/oder sie waren innerlich und/oder äußerlich auf der Flucht, und/oder, sind es immer noch. Um Heilung auch diesbezüglich zu bewirken, muss es darum gehen, zunächst nachzuvollziehen, warum es in Deutschland so ist, wie es ist. Am Ende müsste man nachvollziehen können, warum Deutsche Deutsche verarmen lassen und dieses Ergebnis, auch ohne großen Widerstand, politisch und wirtschaftlich gewollt, herbeiführen können. Dafür bedarf es eines weiteren Abhängigkeitsverhältnisses, wie es durch die kapitalistische Wirtschaft gegeben ist.
Es bleibt am Ende des Kapitels die Feststellung Gandhis bestehen:
Armut ist die schlimmste Form der Gewalt.
Aber: Wir sind nur dann vollends arm und verarmt, wenn Menschen sich nicht mehr äußern. Wenn sie schweigen. Dann kann sie niemand hören. Dann fehlt es überall im Lande an Verantwortungsübernahme. Dann sind wir alle gemeinsam wieder am Ausgangspunkt der deutschen Geschichte angekommen. Genauso, wie Menschen sprechen lernen müssen, muss jedoch ebenso die Bereitschaft, hören zu wollen, vorhanden sein. Es nützt nichts, wenn ein Mensch spricht und niemand da ist, der ihn hört! Der Erfahrung nach, haben Menschen immer wieder versucht, andere Menschen, sei es in Familien, Ämtern, Politikern und bei Gericht zu bewegen, zu zuhören: Aber es wurde (passiv oder aktiv) abgelehnt, zuhören. Gesagtes wird überhört, umgedeutet oder zurückgewiesen, und, wenn es ganz böse kam (oder kommt), ins Gegenteil verkehrt.
Dann wundert mich persönlich nichts mehr in Deutschland. Denn dann wird millionenfach in Deutschland immer wieder der alte Trümmerhaufen in der Wiederholung des unaufgearbeiteten seelischen Materials zelebriert: Gesellschaftlich in der Politik, ökonomisch in Unternehmen und existenziell quer durch die breite, und alle, ob Oben oder Unten, betreffende, individuelle und familiäre Lebensgeschichte. Die alten Machtverhältnisse erscheinen nur in neuen Kleidern – aber im Grunde ist alles beim Alten. Oben und Unten ist man sich einig, man sagt nichts. Unten zöge den Kürzeren, wenn es spräche. Die Befürchtungen hinsichtlich irgendwelcher Nachteile, sind zu groß. Schweigen wird (wieder) nicht belohnt – stattdessen hat man aus alten Opfern neue Opfer, an denen verdient werden kann, psychoökonomisch generiert. Weil man sicher ist: Wer einmal schweigt, schweigt wieder. Aber, ob immer geschwiegen wird, ist die Frage.
Kapitalismus – Capitalism
In Deutschland wurde eine Vielzahl von Amerikanismen bzw. Anglizismen eingeführt. So wollte uns zum Beispiel Christoph Keese, bis August 2005 Chefredakteur der Financial Times Deutschland, weismachen, Capitalism sei etwas völlig anderes als Kapitalismus und von der Wurzel her gut. Sein Credo: Rettet den Kapitalismus! Lassen Sie mich dagegenhalten: Kapitalismus und gesteigert, Globalisierung, gleichfalls der neutraler verbal gehaltene „moderne“ Wettbewerb in der freien Marktwirtschaft besitzen zwei elementare Stränge: einerseits das abstrakte ökonomische System „Kapitalismus“ und andererseits Menschen, die dieses System begreifen, daran glauben, es verfeinern oder gar ausreizen, sprich auf die Spitze treiben, und schließlich umsetzen. Die einen treiben ihn mittels Gewinnsucht auf die Spitze und die anderen, in dem sie ihm bis zum Umfallen und bis in Krankheiten hinein treu sind. Alles im Kapitalismus ist nur so gut, wie Menschen „gut“ sind, die ihn betreiben und betreiben lassen. Der Kapitalismus als System kann gar nichts und ist gar nichts. Er ist eine Idee. Eine Idee lebt von Interessenten, die sie anpreisen und ihr Leben einhauchen.
Es ist aber nicht nur die Begeisterung für eine Idee, die Interessenten erzeugt, sondern, wie im Falle des Systems Kapitalismus, der Nutzen. Der Nutzen besteht in Vermehrung von Geld: Ein bestimmter Betrag Geldes, der zur Verfügung gestellt und Kapital geheißen wird, soll sich vermehren. Damit die Vermehrung geschieht, muss etwas Bewegung in den Haufen Geld, der mit spezifischen Vorstellungen oder Produkten gekoppelt wird, an denen Investoren verdienen wollen.
Für diese Bewegung, auch Arbeit