Die perfekte Insel. Thomas Frick
unserem ersten gemeinsamen Kurzfilm-Abenteuer vor vier Jahren war es ähnlich abgelaufen: Eine Recherchewoche allein mit Stefan in Tunesien, um die richtige Oase zu finden, und dann, zwei Monate später, kamen wir bestens vorbereitet mit einer sechsköpfigen Crew zurück, um das Epos zu verwirklichen, was uns – Oh Wunder! – auch tatsächlich gelungen war. Der neue Film würde sicher ungleich aufwendiger werden, aber man wächst schließlich mit seinen Aufgaben.
Ich hatte mir auf Google Earth diverse Kandidaten für Drehorte ausgesucht und war gespannt, wie schwer es sein würde, sie in der Realität wiederzufinden. Ich versuchte, auf der Karte mitzuverfolgen, an welchen Inseln wir gerade vorbei brausten, sozusagen als Training für die nächsten Tage, verlor aber schon nach einigen Erfolgen die Orientierung. Alle maledivischen Inseln bedecken zusammen weniger als 300 Quadratkilometer Fläche, also nicht einmal so viel wie die Stadt München, erstrecken sich aber, westlich von Indien gelegen, über eine Länge von ca. 800 Kilometern quer durch den Indischen Ozean bis südlich des Äquators.Diese Zahlen lesen sich recht nüchtern, was sie bedeuten, wurde mir jedoch erst jetzt allmählich klar.
Nachdem wir ein paar bewohnte Inseln hinter uns gelassen hatten und schon eine Weile lang von Welle zu Welle klatschten, war am Horizont Brandung auszumachen und ich vermutete dort voller naiver Hoffnung bereits die ersten Inseln des gegenüberliegenden Ari-Atolls. Aber ich irrte mich gewaltig, denn es war erst das Außenriff des Süd-Malé-Atolls, das wir schließlich nach vierzig mühsamen Minuten stampfend und schlingernd hinter uns ließen.
Die Zeitangaben der Crew, wie lange wir eigentlich bis zur Ankunft auf Holiday Island brauchen würden, waren immer ein bisschen vage gewesen und die Hoffnung, bald da zu sein, löste sich rasch in fliegendem Schaum auf.
Das offene Meer war wesentlich bewegter als das Wasser in der Lagune und der pubertäre Kapitän jagte das Boot mit voller Geschwindigkeit in die erste große Welle hinein. Es bumste gewaltig, aber das war nicht etwa ein Versehen, sondern scheinbar die normale Art, zu reisen. Manchmal gelang es dem Skipper für einige Augenblicke, ruhig auf ein paar Wellenkämmen entlangzureiten, aber alle zwanzig Sekunden erwischte er ein Wellental, in welches das gesamte Schiff mit beängstigendem Krachen hineinstürzte, um gleich darauf wieder mit Schwung herauskatapultiert zu werden. Es war wie auf dem Rummelplatz. Mein Magen ging ganz langsam in die Knie und bettelte: Umkehren!
Aber der Spaß wiederholte sich mit beängstigender Gnadenlosigkeit alle Viertelminuten und die Antwort auf meine bang vorgetragene Frage nach der Entfernung bis zum nächsten Atoll war: „Nur zwei Stunden!“
Es gibt nichts Trostloseres als die offene See, wenn sie nicht nett zu einem ist und einfach kein Ende nehmen will. Der Skipper suchte sich einen scheinbar nicht existierenden Punkt am Horizont und bretterte stur drauf zu, ohne dass sich für absehbare Zeit das Geringste veränderte oder sich sonst irgendetwas Hoffnung Machendes ereignete. So sehr die Augen sich auch anstrengten – kein rettendes Inselchen kam in Sicht, kein Silberstreif glänzte am Horizont. Der Rumpf ächzte bei jedem neuen Schlag, die Materialfrage stellte sich und ich dachte voller Ehrfurcht an die alten Seefahrer, die das „Kap der Stürme“ mit nichts als Holz und Würmern unter den Füßen umrundet hatten.
Ich merkte schnell, dass mein Fensterplatz in der ersten Reihe ungefähr dem ersten Platz in einer aus den Schienen springenden Achterbahn entsprach. Selbst Stefan, mein rollercoastergestählter Vergnügungsparkjunkie sah ein wenig grünlich aus. Es war einfach nicht fair hier vorne, da man bei jedem Auf und Ab auch noch gründlich von seiner Stuhllehne verprügelt wurde.
Irgendwann fasste ich mir ein Herz und ließ mich wie eine Flipperkugel Schritt für Schritt und Hopser für Hopser in den weiter hinten gelegenen Teil des Schiffes werfen.
Oben auf der Brücke war es etwas ruhiger als in dem stickigen Bauch unserer wild auf und ab hüpfenden Jahrmarktsgondel. Ich hangelte mich das Treppchen hinauf und fragte mich etliche blaue Flecke später, wie die Crew das wohl aushielt. Die aber saß da wie ein Rudel Sphinxen bei einer Sonntagnachmittag-Nilpartie und der Käpt’n starrte nur unbewegt durch seine verspiegelte Sonnenbrille aufs Meer. Für ihn war es vermutlich ein ruhiger Tag. Seine mitreisenden Kumpels oder Offiziere fixierten mich wie die Bösewichter in einem Spionagefilm, aber wenigstens ließen sie mich gnädig bei ihnen herumstehen bzw. umhertaumeln.
Ich heftete die Augen so fest es ging an imaginäre Punkte am Horizont, so wurde mir wenigstens nicht schlecht.Endlich kam weit voraus etwas Ungewisses in Sicht. Es war eine immerhin schon mal weitläufig zu unserem Atoll gehörende Insel und ich verstand plötzlich das wahre Glück der Seefahrer aller Länder und Zeiten – Land in Sicht!
Land! Ich war froh, dass ich nicht angekettet in einem hin und her federnden Mastkorb hocken musste, um danach Ausschau zu halten.Es dauerte noch ewig, dann waren wir wieder in ruhigeren Gefilden, gondelten an Eilanden vorbei, die ich mit Hilfe der Karte und meiner vorhergehenden Studien bei Google Earth sogar wiedererkannte. Jetzt wurde es beinahe gemütlich, dem coolen Kapitän fielen bei so viel Beschaulichkeit die Augen zu, während ich mich nicht traute, ihn zu wecken, und mit klopfendem Herzen nach Riffen Ausschau hielt. Und schließlich tauchte unsere neue Heimat – Holiday Island – auf.
Auf einem azurblauen Eierkuchen thronte ein sattgrünes Häubchen aus Palmen, Palmen und noch mehr Palmen. Mir als altem Palmenfreak ging das Herz auf.
Was von Weitem wie eine unbewohnte Robinson-Insel aussah, bestand aber, näher besehen, aus über hundert gut getarnten Hütten, hatte eine eigene Hafeneinfahrt und einen gut 200 Meter langen Steg, vor dem schon ein paar Wasserflugzeuge dümpelten. Man glaubte jeden Moment Indy angerannt kommen zu sehen, verfolgt von vergifteten Indianerpfeilen.
An der Rezeption knöpfte sich Stefan sofort einen der Empfangsmanager vor und erklärte ihm, dass wir mitnichten Touristen seien, sondern die Macher eines Filmkunstwerkes, welches hier demnächst ganz viel Geld ins Land pumpen würde. Na ja, nicht heute, nicht morgen und wenn es so weit wäre, dann kämen wir mit vielleicht zehn Leuten wieder. Aber er machte auch gleich Ernst und noch vor unserem Zimmerschlüssel hatten wir für den nächsten Tag eine Verabredung zu einer Rundfahrt mit einem Dhoni, wie die einheimischen Boote hier heißen.
Unsere Behausung lag fast am Ende der Insel, es war heiß und schwül unter den Palmen. Kaum hatten wir in den Luxusappartments eingecheckt, die alle am Ufer der schmalen Insel lagen, befanden wir uns auch schon im Tiefschlaf. Die zwanzig Minuten Koma im wackelnden Flugzeug letzte Nacht waren eindeutig zu wenig gewesen.
Zufällig erwachte ich, als es draußen schon fast dunkel war. Stefan reagierte nicht, also ging ich alleine zum Strand – kein allzu weiter Weg. Die Sonne war zwar schon untergegangen, aber auch so bot sich ein umwerfendes Schauspiel explodierender Farben und Gefühle. Die Sehnsucht nach der Frau meines Herzens, die sich vor einiger Zeit von mir getrennt hatte, die ich aber um alles in der Welt gern bei mir gehabt hätte, das Glück, hier zu sein, und das Leid, es nicht teilen zu können, diese absurde Lebenssituation haute mich glatt um.
Beim Warten aufs Abendbrot las ich „Ubik“, einen surrealen Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick über eine sich auflösende Welt, in der sich alles in die Vergangenheit zurückentwickelt, indem es frühere parallel existierende Formen annimmt.
Das Essen war nicht schlecht, aber es schmeckte mir nicht wirklich. Der Gedanke an frühere Half-Pension-Dinner mit meiner liebsten Reisegefährtin stimmte mich trübselig. Ich hatte diesen Effekt erwartet und es war klar, dass mich die Parallelwelten meiner Urlaubserinnerungen in Depressionen stürzen würden, aber ich konnte mir auch einreden, ich sei schließlich nicht zum Spaß hier, und so begann ich mich also tapfer durch das Vier-Sterne-Büfett zu graben, um mich für die kommenden Aufgaben zu stärken.Stefan ließ sich nicht blicken und der Kellner fragte mich nach meiner werten Gemahlin, ob die wohl noch käme. Holiday Island ist eine reine Honeymoon-Insel, ausgerichtet auf pauschale romantische Zweisamkeit. Ich zog probehalber den Bauch ein, als eine ansehnliche Urlauberin in kurzen Höschen vorbeischwebte, aber dann streckte ich ihn gleich wieder doppelt so weit vor, weil ich mir plötzlich unendlich