Toxicus. Anita Jurow-Janßen
Michael Schönewald sah von seiner Zeitung auf. Es war Samstag, und da er frei hatte, schien die Gelegenheit günstig zu sein, ihn von Sannes Wunsch zu überzeugen. Gunda sah ihn bittend an.
„Aber wir wollten doch am See …“
„Ich weiß“, unterbrach sie ihn, „aber sie hat sich verknallt, in Ben, Birgits Bruder.“
„Na, dann wohl erst recht nicht. Das kann doch nur eine Enttäuschung werden. Oder meinst du wirklich, dass der sich mit unserer Tochter abgibt? So wie der aussieht. Das glaubst du ja selbst nicht! Ist der nicht auch viel älter?“
„Michael, wir haben eine sehr hübsche Tochter, und Ben ist ein lieber Junge. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar lieber als Birgit.“
„Wieso? Was hast du denn plötzlich gegen Birgit?“
„Ich habe nichts gegen Birgit, aber sie ist manchmal richtig kratzbürstig. Findest du nicht?“
„Ist mir noch nicht aufgefallen. Zu mir ist sie immer ganz höflich.“
„Ist doch jetzt unwichtig. Ich denke, wir sollten Sanne den Wunsch erfüllen. Wir werden meine Eltern an einem anderen Tag ins Haus am See einladen. Denen ist das wahrscheinlich ziemlich egal. Und ob Erik sich an diesem oder einem anderen Tag mit Opa herumplagen muss, ist ihm bestimmt auch schnuppe.“
Erik, Sannes Bruder, ein drahtiger kleiner Kerl, elf Jahre alt, spielte lieber mit seinen Freunden, als sich von seinem Opa maßregeln zu lassen. So lieb er seine Oma hatte, sein Opa, ein knurriger alter Herr, hatte ständig etwas an ihm herumzumeckern.
Michael schien in sich hineinzuhorchen. Es dauerte eine Weile, bis er sagte: „Werden sie Erik denn zur Party einladen?“
„Wohl kaum. Er ist zu jung.“
„Na gut. Vielleicht hast du recht. Sollen sie doch bei Birgit feiern. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.“
Gunda war aufgestanden, stellte sich hinter Michaels Stuhl und umarmte ihn von hinten.
„Danke. Ich liebe dich. Du bist der Beste“, raunte sie und küsste sein rechtes Ohr.
„Na dann!“ Michael grinste versöhnlich.
***
Ben Giese saß in seinem Zimmer am Schreibtisch vor dem Fenster. Die Hausarbeit, die er für die Uni Oldenburg schreiben musste, war anstrengend. Er saß schon einige Stunden vor dem Laptop und brauchte dringend eine Pause. Es war schwül in seinem Zimmer. Obwohl die Räume hoch und die Fenster geöffnet waren, hatte sich die sommerliche Hitze inzwischen im ganzen Haus breitgemacht. Ben konnte von seinem Fenster aus die ganze Auffahrt bis zur Straße einsehen. Er liebte den Blick in den Garten, der hin und wieder von einem Gärtner gepflegt werden musste, weil er so riesig war. Die Villa am Stadtrand von Oldenburg gehörte schon seit mehr als hundert Jahren seiner Familie und sah von der Straße wie ein altes Gemälde in einem Rahmen aus Büschen und Bäumen aus.
Ben seufzte. Er musste sich ranhalten, denn der Abgabetermin für die Arbeit war morgen. Er wollte gerade weitermachen, als er Birgit und Sanne heftig diskutierend die Auffahrt heraufkommen sah. Bei dem Bild, das sich ihm bot, fing er an zu grinsen. Unterschiedlicher konnten Mädchen wohl nicht aussehen. Seine Schwester war ein langes, dürres Elend, die Haare aschblond und heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wie immer war sie die Rädelsführerin, während Sanne hin und wieder zu ihr aufsah und überwiegend zuhörte. Sanne sah von Weitem aus wie ein angezogener riesiger Medizinball. Allerdings umspielte ihr kastanienbraunes Haar in Wellen ihr Kinn und schien sogar aus dieser Entfernung zu leuchten. Ben mochte sie. Sie war nicht annähernd so zickig wie seine Schwester, mit der er sich eigentlich immer nur stritt. Die Mädchen waren jetzt im Hausflur zu hören, in dem sie sich wahrscheinlich die Schuhe auszogen. Sie sprachen über die bevorstehende Geburtstagsparty, die derzeit das über alles hinausragende Familienthema war. Gerade wollte er hinunterrufen, dass die Mädchen ihm einen Tee mitmachen sollten, als er eine Gestalt auf der Auffahrt bemerkte. Er beugte sich näher an die Fensterscheibe, um diesen Jemand vielleicht erkennen zu können. Als ob derjenige Ben bemerkt hätte, versteckte er sich hinter einem großen Rhododendron, der neben vielen weiteren die Auffahrt säumte. Ben stutzte. Sollte er hinlaufen und nachschauen? Bis dahin hätte der Typ längst das Weite gesucht. Er ging hinunter zu den Mädchen. Vielleicht hatten sie ja etwas bemerkt. Sanne sah ihn mit strahlenden Augen an. Wie hübsch sie ist!
„Sagt mal, ist euch vielleicht jemand gefolgt?“
Birgit blickte wenig interessiert auf. Sie hatte nur ihre Party im Kopf. „Wieso? Nö, wer sollte uns schon folgen?“
„Ich habe jemanden gesehen, der hinter dem Gebüsch an der Auffahrt verschwunden ist, als ihr ins Haus gegangen seid.“
Sanne, die Ben nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, erwiderte erstaunt: „Wirklich? Und du weißt nicht, wer das war?“
„Ich konnte ihn nicht erkennen. Er war zu schnell verschwunden.“
„Aber ein Junge war es?“
„Ja, glaub ich schon. Oder ein Mann. Jedenfalls keine Frau.“
„Wollen wir nicht mal nachsehen?“
„Quatsch, der ist doch längst über alle Berge. Wahrscheinlich hat der nur da gepinkelt“, mischte Birgit sich ein.
Sanne sah zweifelnd von einem zum anderen.
Ben spürte, dass sie sehr verunsichert war. Er wollte sie beruhigen und sagte: „Ist wohl nicht so wichtig. Wahrscheinlich hat Birgit recht. Macht ihr mir einen Tee mit? Ich muss dringend weiterarbeiten.“ Schnell drehte er sich um und eilte zur Treppe.
Ich glaub das nicht. Dass der nur pinkeln wollte. Als er oben angekommen aus dem Fenster sah, konnte er niemand mehr entdecken.
***
Ronny hatte Birgit und Sanne von der Schule aus verfolgt. Es war nicht das erste Mal gewesen. Bisher war er unbemerkt geblieben. Die Mädchen hatten heute auf dem Schulhof Einladungen verteilt, aber er war mal wieder übergangen worden. Wie er herausbekam, ging es um eine Geburtstagsparty. Es schmerzte, dass er so oft ignoriert wurde. Eigentlich war er nur an Birgit interessiert. Aber Sanne klebte ständig an ihren Hacken. Jetzt bogen die beiden in die Einfahrt zu Birgits Elternhaus ein. Bevor er sich an seinen Beobachtungsposten begeben konnte, bemerkte er, dass jemand von einem der oberen Fenster genau in seine Richtung starrte.
„Scheiße, der hat mich gesehen!“ Schnell sprang er zur Seite hinter einen großen Busch. Sein Herz pochte. Ich verpiss mich lieber, bevor noch jemand herkommt. Ich muss irgendwie auf die Fete. Lukas muss mich einschleusen. Ich muss nachdenken, wie wir das anstellen. Aber jetzt muss ich erst mal meine Schlangen versorgen.
„Hallo meine Süßen, ihr habt sicher Hunger?“
Anabelle, Ronnys Lieblingsschlange, eine fast orangefarbene Kornnatter, zischte ihn mit der gespaltenen Zunge an, als er in ihr Terrarium sah. Sie glitt von ihrem Baumstamm herunter und schlängelte sich zum Sichtfenster, als ob sie Ronny begrüßen wollte.
„Du bist genauso schön wie Birgit“, sagte Ronny liebevoll und nahm die Schlange aus dem Käfig. Anabelle kringelte sich um seinen Nacken. Ein angenehmes Kribbeln durchzog seinen Körper. Er war inzwischen ein großer kräftiger Bursche geworden und überragte fast alle seine Mitschüler. Er hatte die gleiche Figur wie sein Vater, nur dass der nicht ganz so groß war. Auch dessen braune Augen und die braunen Haare, die ihm immer wieder in die Stirn fielen, hatte er von seinem Vater geerbt. Nachdem er die anderen Schlangen, zwei Vipern und eine grüne Mamba, gefüttert hatte, legte er sich mit Anabelle aufs Sofa und zog seine Hose herunter.
„Ja … Anabelle, weiter so, weiter so.“ Er stöhnte, während Anabelle sich auf seiner nackten Haut hin- und herwand. Sein Glied schien vor Erregung zu bersten. Nachdem er gekommen war, legte er Anabelle zurück in ihr Terrarium. Er warf einen Blick auf seine Giftschlangen. Die grüne Mamba hatte er „Birgit“ getauft. Voller Wehmut dachte er jetzt an die andere Birgit. Er musste sie haben. Nur durch sie konnte