Café Messerschmidt ist weggezogen. Gudrun Parnitzke

Café Messerschmidt ist weggezogen - Gudrun Parnitzke


Скачать книгу
Und an die ganz alten mit dem glühenden Bolzen, ohne Regler, mag er schon gar nicht denken.

      Sie hätte einen Bogen Löschpapier genommen, um die Hitze zu prüfen, teilt die Großmutter ihre Erfahrungen mit. Frau Weber behauptet, die richtige Temperatur im Gefühl gehabt zu haben. Beim Theater müsse alles schnell gehen. Zeit und Präzision seien das A und O, und Gefühl das I-Tüpfelchen dabei. Auch beim Bügeln.

      „Ich habe es mit Spucke kontrolliert“, sagt sie und betrachtet ihre vernarbten Fingerkuppen.

      Herr Weber legt eine Schallplatte auf ein altes Grammofon mit einem Schalltrichter, kurbelt das Gerät an und spitzt genießerisch den Mund, den Kopf im Takt eines Walzers wiegend. Die rechte Hand um die dürre Taille seiner Frau gelegt schwingt er sie im Kreis herum, verschmilzt mit ihr zu einem Körper, während die Beine des Paares sich wie dünne mechanische Werkzeuge, die passgenau aufeinander abgestimmt sind, wirbelnd über das ausgetretene Parkett bewegen.

      „Was Sie alles können!“ Die Großmutter findet auch diesen Teil der Vorstellung famos. „Meine Füße wollen nicht mehr, ich bin ein Krüppel“, erklärt sie. Im Übrigen hätte sie auch als junge Frau nicht oft getanzt.

      „Sieh einer an! Wo Sie doch aus Neukölln sind!“ wundert sich Herr Weber. In Rixdorf ist Musike, zitiert er einen uralten Schlager. „Kindl-Festsäle, der Rollkrug, die Neue Welt in der Hasenheide, das Ballhaus Orpheum“, zählt er auf. „Sie haben die Amüsiermeile doch vor der Haustür gehabt.“

      „Ja, und die Friedhöfe auch!“ Dazu lächelt die Großmutter mit gekräuselten Lippen. Und dann strafft sie den Rücken: „Außerdem bin ich aus Schlesien.“

      Sie betont oft, dass sie aus Schlesien ist und Neukölln nicht als ihre Heimat betrachtet und lebt doch schon so lange dort. Jung verheiratet nach Neukölln gezogen kam sie in eine Stadt, die noch nicht zu Berlin gehörte, die gerade ihren alten Namen Rixdorf abgestreift hatte und damit zugleich alles Unseriöse, nach billigem Vergnügen Klingende. Und in der die Stadtväter größten Wert darauf legten, dass es hier nicht nur Tanzpaläste und „Musike“, sondern auch ein Tiefbauamt gab. Einige Jahre später wurden die ersten U-Bahn-Linien geplant und mit dem U-Bahnhof Hermannplatz, in dem sich zwei Linien auf verschiedenen Ebenen kreuzen, entstand unter der Erde ein architektonisches Wunderwerk, das seinesgleichen suchte.

      „Mein Mann war Ingenieur beim Tiefbauamt“, sagt die Großmutter. „Stadtentwässerung.“ Und in der Hasenheide verkehrte sie nicht, das sei nicht ihr Milieu gewesen. Was aber das Tanzen betrifft: Sie mache sich persönlich nichts daraus, sie würde lieber ins Theater gehen, wenn es ein gutes Stück gibt. Und lesen natürlich. Und dann, etwas verschämt, gesteht die Großmutter, dass sie gerne schreiben würde.

      „Schriftstellerin, das wäre etwas gewesen!“

      Den Entwurf einer Liebesgeschichte mit dem Titel Vom Glück zum Leid hatte sie im Wäscheschrank zwischen jenen Teilen ihrer Aussteuer aufbewahrt, die nie in Gebrauch genommen wurden: einem Tafeltuch für vierundzwanzig Personen und der doppelten Anzahl von Servietten, alles mit ihrem Monogramm. Es hätte die Grenzen der kleinen Beamtenwohnung in der Neuköllner Leinestraße gesprengt. Hin und wieder schüttelt der Vater noch immer den Kopf: Nur das Nötigste habe man aus der elterlichen Wohnung retten können, als das Wohnhaus unter dem Artilleriebeschuss der Roten Armee in Flammen aufging, aber das unnütze Tafeltuch und das handgeschriebene Manuskript fanden sich unversehrt unter dem Nötigsten wieder.

      Frau Weber hat der Großmutter das fertige Kleid übergestreift, hurtig steckt sie den Saum ab und Herr Weber tänzelt mit prüfendem Blick um die Großmutter herum, begeistert davon, wie das Kleid trotz ihres gebeugten Oberkörpers die Stattlichkeit der Trägerin betont.

      „Nur noch der Saum!“ Frau Weber tröstet Uli, die sich langweilt, mit ein paar Keksen. Trostkekse, die nach Mottenpulver schmecken.

      „Haben die sonst nichts zu trösten?“ Uli sieht sich nach Spuren von Enkelkindern um, entdeckt aber keine.

      Angekommen am S-Bahnhof Neukölln dampft das Pflaster nach einem Regenschauer. Die Hitze hat sich zwischen den Fassaden der Mietshäuser gestaut und drückt in die kalten Kellerschächte, aus denen der Geruch armseligen Hausrats entweicht.

      Uli läuft auf der Bordsteinkante entlang.

      „Pass auf die Laternen auf!“ warnt die Großmutter sie.

      Uli schleckt eine Kugel Schokoladeneis aus der Waffeltüte. Die winzige Eisdiele von Herrn Rendez in der Emser Straße liegt ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt, gleich hinter der Wechselstube, wo sie auch die Kundschaft aus dem Osten anlockt. Nur vier zierliche runde Tische mit roten Plastiksesseln haben neben der Theke Platz, aus einem Lautsprecher an der Wand quäkt es Bella Bimba. Alle fünf Minuten ein anderer Schlager.

      Herr Rendez ist ein stattlicher Mann, ansehnlich mit seinen dichten, dunklen Locken und dem schwarzen Schnauzbart.

      „Französischer Name“, sagt die Mutter oft und dann, mit einem nasalen N: „Rändee. Bestimmt Hugenotte.“ Französisch war ihre erste Fremdsprache auf dem Lyzeum gewesen.

      Die eleganten, sicheren Handbewegungen von Herrn Rendez beim Abfüllen der Eiswaffeln mit silbernen Kugelzangen oder einem Spatel könnten die eines Chirurgen sein. Im Winter zieht er den Hasen das Fell vom Leib und zerlegt Wild und Geflügel. Die geschossenen Rehe hängen kopfüber an einem Haken neben dem Schaufenster, die Vorderläufe zusammengebunden, damit sie nicht vom Wind bewegt werden, als wäre das Tier im Traum auf der Flucht. Aus dem Maul der Rehe tropft Blut in eine Zellophantüte und sammelt sich zu einer trüben braunen Pfütze.

      „Wie war es in Lichterfelde?“ fragt die Mutter. Sie fürchtet, das Kind könnte mit Bestürzung die Kluft zwischen Neukölln und Lichterfelde, den Gärten dort und Villen, erkennen und unglücklich darüber sein.

      „Es war langweilig“, mault Uli. Das Schönste sei der Heimweg vom Bahnhof Neukölln gewesen, wegen der Eistüte, die es bei Herrn Rendez gibt. „Rändee“, verbessert sie die Mutter.

      Großmutters neues Kleid hängt im Kleiderschrank und verbreitet einen zarten Duft von Uralt Lavendel. Die flachen grünen Flaschen haben ein geschwungenes Profil und einen goldenen Verschluss. Wenn sie leer sind, gehören sie Uli. Ein paar Tropfen lässt die Großmutter übrig. Auf welker Haut entfalten sie den müden Duft des Alters, auf junger Haut riechen sie würzig und leicht bitter. Uli füllt die Flaschen mit Wasser, schüttelt den Inhalt durch, prahlt: „Mein Parfum!“

      6. Körnerpark

      Der Tag, an dem Uli und Hubert zum ersten Mal ohne die Eltern in den Körnerpark gehen, ist sonnig aber kalt. Sie tragen Wintermäntel.

      Der Körnerpark liegt in einer Senke, einige Meter unterhalb der angrenzenden Straßen, geborgen im Schutz hoch aufstrebender, mit Blendarkaden verzierter Mauern und von Balustraden umsäumt.

      Zwei frierende Konfirmanden posieren auf der monumentalen Treppenanlage zur Schierker Straße für ein bleibendes Foto. Das Mädchen hat seinen Mantel abgelegt und hält einen Strauß weißer Freesien im Spitzenschleier vor das schwarze Samtkleid, der Junge zupft an den Ärmeln seines Anzugs, die sichtbar zu lang sind. Uli mustert die beiden verstohlen und voller Ehrfurcht vor ihrem Erwachsensein. Bald werden auch die Erstklässler mit ihren glänzenden Schultüten an gleicher Stelle in die Kameras lachen, stolz auf ihre Zahnlücken.

      Kaum haben Uli und Hubert den Park betreten, werden sie angehalten.

      „Taschenkontrolle!“ Erschrocken starren sie in die Gesichter von zwei Halbwüchsigen. Aus den Blicken der beiden können die Geschwister es ablesen: Die machen keinen Spaß. Zu groß sind sie, um ihnen davonlaufen zu können, zu stark, um ihnen Widerstand zu leisten. Mit harten Fingern durchwühlen sie die Manteltaschen der Kinder, bis der Größere von ihnen zwei kleine Autos findet, die Hubert zum Spielen eingesteckt hat. Die lässt er in seinen Hosentaschen verschwinden.

      „Was glotzt ihr so dumm?“ Die beiden ziehen davon. „Beim nächsten Mal müsst ihr bezahlen! In echt! Wehe, ihr habt kein Geld mit!“ Der Kleinere ruft es drohend


Скачать книгу