Café Messerschmidt ist weggezogen. Gudrun Parnitzke

Café Messerschmidt ist weggezogen - Gudrun Parnitzke


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Diebstahl kommt man ins Gefängnis“, tröstet die Großmutter sie. Uli ist erleichtert, die Jungen eingesperrt zu wissen. Als ihr einige Tage später der Größere von Weitem begegnet, traut sie ihren Augen nicht.

      Eine Weile noch denkt Uli mit Herzklopfen an den Vorfall, doch ohne den Körnerpark bliebe den Kindern kein anderer Platz als der Hinterhof und ein verkommenes Karree vor der Schierker Straße, mit einem rostigen Klettergerüst, schattig und voller Hundehaufen. Auf den kreuzweise zusammengezimmerten bunten Holzbänken mit einem winzigen Tisch in der Mitte sitzen rittlings alte Männer und spielen Skat. Zigarettenkippen liegen auch auf dem Boden.

      In der warmen Jahreszeit ist der Körnerpark ein Lustgarten mit Rosenhecken, die duften, und Blumenrabatten, mit Wein- und Efeuranken, die das Elend des Krieges verdecken. Überall an den Mauern bröckelt der Putz neben breit gestreuten Einschusslöchern und legt rostige Eisenträger frei, brüchige Stellen sind hier und da notdürftig zugemauert. Von den Fensterrahmen und Flügeltüren der Orangerie blättert die weiße Farbe ab, drinnen stehen Spaten, Schaufeln und Laubbesen nebeneinander, dicke Wasserschläuche liegen am Boden, zusammengerollt wie träge Riesenschlangen.

      Die Wasserspiele, das Herzstück des Parks, liegen brach. Die Rohre für die künstliche Kaskade und den Springbrunnen sind gebrochen, auf dem rissigen Grund des Beckens haben Mädchen mit weißer Kreide das magische Gitter für ein Hopsespiel gezeichnet: Himmel und Hölle. Rollschuhlaufen im Becken ist verboten, steht auf einem Schild, aber im Winter, bei Schnee, gleiten die Kinder über eine lange Schlitterbahn, die sie mit ihren Schuhsohlen und immer neuen Anläufen spiegelblank poliert haben.

      Auf dem gewölbten Rand des Beckens balancieren Mädchen, eine ganze Runde, ohne herunterzufallen. Unten lassen sie ihr Springseil laut klatschend über den Steinboden kreisen oder treiben mit einer kleinen Peitsche ihre bunten Holzkreisel an. Triesel, sagen die Kinder.

      „Triesel?“ Uli tippt sich an die Stirn. „Kreisel heißt das!“ Uli fühlt sich stark. Sie trägt die ersten Kniestrümpfe im Jahr und ist dementsprechend selbstbewusst. Ohne Kniestrümpfe dürfte sie gar nicht mitreden.

      Wenn die Zeit der Maikäfer gekommen ist, kaufen die Kinder sie in einer Zoohandlung und beobachten, wie sich die plumpen Tiere, in Schuhkartons gepfercht, durch frisch gepflückte Kastanienblätter fressen. Vorsichtig betasten sie die kleinen Besen an ihren Fühlern. Später werden die Tiere zum Abflug in den Körnerpark gebracht. Sie entfalten die Flügel unter dem geöffneten Panzer und schwirren geräuschvoll von den Balustraden ins Grüne.

      Zwei flach abfallende Wege führen von der Ostseite her in den Park. Hier geben mit pumpenden Armbewegungen die Kriegsversehrten ihren Rollstühlen Schwung. In den langen braunen Wagen sitzen sie wie in offenen Särgen, eine schwarze wasserfeste Kunststoffplane liegt über den Beinen oder dem, was von ihren Beinen übrig geblieben ist.

      Auch die Figuren im Park haben einiges abbekommen. Am unteren Ende des Wasserfalls, auf den flachen Mauern, thronen zwei Sphinxe zu beiden Seiten: zwei Löwenkörper mit Widderköpfen, deren Nasen abgeschlagen sind. Mit dem Verlust ihrer mystischen Aura ertragen sie stumm die reitenden und johlenden Kinder auf ihren Rücken.

      Am oberen Ende, in der niedrigen Grotte, die sich über verrostete Rohre wölbt, stinkt es nach Urin und verfaultem Laub. Wer von den Kindern als Erster die sechs hohen Stufen der Kaskade überwindet und oben an der stinkenden Grotte ankommt ist Sieger. Im Sommer behindern große Pflanzkübel mit bunter Kresse den Wettkampf. In dichten Ranken ergießen sich ihre Blüten über die Anlage. Uli und Hubert und andere aus der Nachbarschaft klettern zwischen den Blumen auf und ab. Sie wissen, dass es verboten ist.

      Der hinkende Parkwächter trägt einen grauen Anzug und eine Dienstmütze mit schwarzem Lackschirm. Die Kinder nennen ihn Kanne.

      „Kanne kommt!“ rufen sie, wenn er von Weitem Drohgebärden in ihre Richtung schickt und Anstalten macht sie zu verfolgen.

      „Ich werde euch die Hammelbeine schon lang ziehen!“ brüllt er. Aber wie? Immerhin hält er seinen silbernen Spieß wie einen Degen in die Höhe. Der Spieß ist zum Aufsammeln von Papier. Einmal hing ein blassgelbes Gummistrümpfchen an der Spitze. „Für Puppen“, hat Uli gedacht und nicht verstanden, warum der Parkwächter anfing zu fluchen.

      Benni, der Hilfsschüler aus dem Nachbarhaus, hat ein totes Mauswiesel im Gebüsch gefunden, mit rotbraunem Rücken und weißem Bauch. Der Körper ist biegsam, keine Totenstarre, das Maul mit den spitzen, gelben Zähnen ist leicht geöffnet. Benni wirft das Tier in die Luft, fängt es wieder auf und stopft es unter den Reißverschluss seiner Jacke. Oben schaut der Kopf heraus.

      Uli geht Doris und Ingrid entgegen, den beiden Schwestern aus ihrem Haus, die im Erdgeschoss wohnen. Sie schieben ihre Puppenwagen an dem Jungen vorbei, bleiben neugierig stehen. Dann laufen sie vor dem toten Nager kreischend davon. Ingrids Puppenwagen kippt um. Benni nimmt ihre Puppe, zerrt sie aus dem Steckkissen und legt sein Mauswiesel hinein. Ohne zu zögern stürzen die beiden Schwestern sich auf den schmächtigen Jungen, werfen ihn zu Boden und reiben ihm Sand und Kies ins Gesicht. Zufrieden steuern sie ihre Wagen auf die Kaskaden zu. Doris hat sich ein Herz gefasst, das Mauswiesel am Schwanz gepackt und ins hohe Gebüsch geschleudert. Da hängt es irgendwo auf Nimmerwiedersehen im dichten Laub. Noch im Sitzen hat Benni sich den Kies vorsichtig von den Wangen gewischt.

      „Was macht man in einer Hilfsschule?“ hat Uli ihn einmal gefragt und er hatte ihren Blick mit seinen braunen Teddyaugen ratlos erwidert und nach kurzem Bedenken geantwortet: „Nichts.“

      Auf den Mauern zu beiden Seiten der Kaskaden, am Ende jeder Stufe, stehen steinerne Körbe, überquellend von Früchten, Überfluss vortäuschend, wo es nie welchen gab. Wunschbilder, wie die Fassade der Orangerie am anderen Ende des Parks, die vorgibt ein Schloss zu sein, solange man sie aus der Entfernung betrachtet. Die Körbe haben sich der Zerstörung widersetzt, als hätten sie ihre Sinnfälligkeit in eine neue Zeit hinüberretten wollen, in der alles besser werden wird, selbst in Neukölln, wo nur wenige Schritte vom Körnerpark entfernt der geschäftige Lärm der Karl-Marx-Straße ahnen lässt, dass es nun jedermann möglich sein kann einen Teil von dem neuen Wohlstand zu ergattern.

      Neben den Körben richten die Mädchen ihre Puppenzimmer ein. Uli kann die Gesichter der Babypuppen und ihre Glatzköpfe aus gelblich schimmerndem Bakelit nicht leiden, die Mutter-und-Kind-Spiele von Doris, Ingrid und der kleinen Hanna, die im Haus gegenüber wohnt, verfolgt sie mit Staunen, ihre Verwandlung in Puppenmütter, die sich im Tonfall von Erwachsenen über Säuglingspflege unterhalten, bleibt ihr ein Rätsel. In Ulis Puppenwagen schlummern zwei Affen und ein Bär und sie weiß, dass sie als Puppenmutter nicht zählt. Wenn Frauen sich hin und wieder über die Kissen beugen, um die Puppenkinder der Mädchen zu bewundern, erntet Uli verständnisloses Kopfschütteln.

      „Meine ist an den Masern gestorben“, erklärt sie einer Frau, die schnell das Weite sucht. Ihre einzige Babypuppe mit einem Kopf aus rosig bemaltem Porzellan hat Uli im Arm spazieren getragen, als sie vier Jahre alt war, oben, entlang der offenen Galerie an der Südseite des Parks. Da stolperte das Kind und fiel. Der Puppenkopf zerschellte auf den tückischen Pflastersteinen und zwei Glasaugen mit blauer Iris hüpften unter höhnischem Klack, Klack, Klack durch die Balustraden auf die Schierker Straße herunter und rollten auf die Fahrbahn.

      Von der Galerie oberhalb der Schierker Straße blickt man ein paar Meter herunter in den dunkelsten Teil der Parks, abgelegen hinter undurchdringlichen Sträuchern und von hohen Baumkronen beschattet. Die Liebespaare, in dichten Efeunischen versteckt, bemerken nichts von den Kindern, die sie von oben beobachten und nebenbei voller Genuss ihre Zungen in kleine Tüten mit Brausepulver schieben. Die bunten Kristalle prickeln und schäumen. Nur einmal wurden sie entdeckt. Eine leere Brausepulvertüte segelte nach unten und der Liebhaber sprang auf und drohte ihnen mit der Faust. Unter Hohngelächter machten die Kinder sich aus dem Staub.

      „Du musst die Beine breit machen und dich auf meinen Schoß setzen“, sagt der gleichaltrige Wolfgang zu Uli, als sie im Schutz des Efeus das Spiel der Erwachsenen imitieren, um zu ergründen, was die Paare aneinander finden.

      „Und jetzt?“ Uli sitzt unbequem.

      „Keine


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