Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
Ich merke, ich bin da noch lange nicht drüber weg.
Ich halte Ellen meine Hand hin und sie zieht mich hoch. Die anderen folgen uns und wir schlendern wieder Richtung Altstadt. Vielleicht bekommenen wir einen Platz im „Kleinen Lord“, der kleinsten Kneipe der Welt? Mit uns ist die schon voll.
Aber wir kehren dann doch schon in einer anderen Kneipe ein, weil wir alle durstig sind und nicht weiterlaufen wollen. Dort spielt schöne Musik und sie haben einen kleinen Gastgarten, in dem wir es uns bequem machen. Außerdem ist das eine Kneipe, die Ellen kennt.
Ich bestelle mir ein großes Alster und die anderen sich Cola, Orangensaft mit Wodka oder ein Bier. Da ich noch später auf Marcel treffe, verkneife ich mir den Orangensaft mit Wodka lieber.
„Mann, willste jetzt wirklich brav werden?“, fragt mich Ellen aufgebracht und zieht ihr Handy aus der Tasche, das einen Anruf ankündigt.
Ich schmunzele nur und wende mich an Andrea, die auf der anderen Seite neben mir sitzt und mich am Arm zu sich zieht. „Und seid ihr jetzt wieder richtig zusammen, du und Marcel?“, fragt sie. Scheinbar lässt sie die Geschichte nicht mehr los.
„Joop! Ich fahre heute Abend zu ihm und wir werden unser erstes gemeinsames Wochenende in einer eigenen Wohnung verbringen.“
„Wow! Das wird bestimmt heiß!“ Sie grinst mich an.
Ich grinse zurück. „Bestimmt! Deshalb kann ich dieses Wochenende auch nicht mit euch mitgehen. Wir wollen einfach wieder unsere Zweisamkeit genießen.“
„Das verstehe ich“, raunt sie träumerisch. „Das wird bestimmt toll … nach all dem Stress.“
Ich nicke, werde aber auf Ellen aufmerksam, die ins Telefon brummt: „Das ist eigentlich schlecht. Ich bin noch mit den Mädels unterwegs. Wir sind jetzt erst mal in unserer Kneipe … am Bocksturm.“
Ich sehe sie fragend an und sie sagt zu mir, nur die Lippen bewegend: „DANIEL!“
„Okay, wenn du meinst! Wir treffen uns dann an dem Taxistand am Wall. Ich komme da hin. Aber erst später.“
Sie hört erneut zu und antwortet genervt: „Ich möchte Carolin hier nicht allein lassen. Sie kennt sich hier kaum aus und ich weiß nicht, was die anderen vorhaben.“
Ich sehe Ellen irritiert an. Dass sie schon wegmuss gefällt mir gar nicht. Nach einiger Zeit sagt sie: „Ja, gut. Ich komme ja. In 10 Minuten, okay?“ Sie wirkt beunruhigt.
„Was ist los?“, frage ich, als sie auflegt.
„Keine Ahnung. Daniel hat irgendetwas Wichtiges. Was, sagt er nicht. Aber ich muss sehen, was los ist. Ich kann also nicht länger bleiben. Meinst du, du kommst klar?“
„Sicher!“, beteuere ich. „Überhaupt kein Ding. Die anderen müssen doch bestimmt auch zum Bahnhof. Ich gehe einfach mit denen mit. Ich komme schon klar und wir telen einfach später noch, wenn du willst.“
Ellen trinkt aus und steht auf. Sie will an der Theke bezahlen und dann zu dem Taxistand aufbrechen … wo auch immer der ist.
Ich stehe auch auf und drücke sie kurz. „Dann wünsche ich dir einen schönen Abend“, raune ich und zwinkere ihr zu. Schließlich verbringt sie ihn mit ihrem Daniel.
„Dir auch“, brummt Ellen, durch den Anruf beunruhigt.
Sie geht, den anderen auch noch einen schönen Abend wünschend und ich sehe ihr hinterher. Was Daniel wohl für einen Stress hat, dass er Ellen sofort abholen muss? Hoffentlich nicht wieder ein Drogenproblem ihren alten Freundinnen?
Die Kellnerin kommt und ich bestelle mir doch noch einen Wodka-Orangensaft. Ohne Ellen bin ich hier in der Stadt nur halb so locker und mir fehlt der Halt. Damit das nicht auffällt hilft mir hoffentlich der Alkohol.
Die anderen fühlen sich auch ohne Ellen wohl und beginnen eigene Geschichten aus ihren bisher missratenen Liebesleben zum Besten zu geben. Auch Michaela ist eine gute Erzählerin und hat auch schon einiges mit dem anderen Geschlecht erlebt. Aber das hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Sie hat eine super Figur, ist groß und mit ihren langen, blonden Haaren und den blauen Augen wirkt sie wie einem Modemagazin entsprungen. Dass ihr die Männer zu Füßen liegen ist klar. Auch wenn ihre überhebliche Art bestimmt den einen oder anderen abschreckt.
Eine halbe Stunde, nachdem Ellen sich auf den Weg zu Daniel machte, werde ich unruhig. Irgendetwas macht mich nervös, ohne dass ich weiß was es ist.
Andrea bestellt sich das dritte Bier und ich mir noch ein kleines Alster bei der netten Bedienung, die alles ordentlich in ein Gerät eintippt. Ich sehe ihr immer noch seltsam beunruhigt hinterher, als sie den Gastgarten verlässt. Als sie durch die Tür in die Kneipe tritt, erstarre ich.
Völlig ruhig und relaxt steht Ellens Bruder Erik im Türrahmen, ein Bier in der Hand, und prostet mir zu.
Scheiße! Wie von allen Arterien und Venen abgekappt sinkt mein Herz in den freien Fall. Ich schlucke schwer und spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht.
Sabine erzählt gerade, wie sie und ihr Freund Guido sich gefunden haben und richtet das Wort an mich. „Also bei uns gibt es solche Partys nicht, wo sich alle Jugendlichen treffen können und jeder jeden kennt. Aber wir haben uns im Ostbunker kennengelernt. Das ist ein Jugendtreff hier in der Stadt.“
Ich nicke ihr zu. Aber meine Gedanken sind bei Erik, dessen Blick ich direkt auf mir spüre.
Was soll ich jetzt nur tun? Ellen ist nicht da und sonst auch keiner, der mich beschützen kann. Von den Mädels weiß bestimmt keiner, wer das überhaupt ist. Außer Susanne vielleicht … hoffe ich.
Ich würde sie gerne fragen, aber zwischen mir und ihr ist Ellens Platz frei.
Ich versuche mich zu beruhigen. Bisher macht Erik keinerlei Anstalten, mich ansprechen zu wollen. Am liebsten würde ich schauen, was er macht. Aber ich traue mich nicht. Ich habe sein Zuprosten einfach ignoriert und bin mir nicht sicher, wie er das aufnimmt.
Als Sabine ihre Geschichte beendet hat und Andrea mit roten Wangen völlig hin und hergerissen seufzt: „Oh Mann! Ich will auch mal so etwas erleben“, sehe ich doch zur Tür.
Erik ist nicht mehr da.
Ich atme auf. Vielleicht ist er wieder gegangen? Aber tief in meinem Inneren glaube ich das nicht.
Wir bekommen unsere Getränke und ich sehe mich verstohlen um. Aber ich sehe erneut nichts von ihm und werde langsam ruhiger. Dennoch trinke ich mein Alster ziemlich hektisch und viel zu schnell aus. Das zeigt mir, dass mir immer noch nach Mut antrinken ist. Der bloße Anblick von Ellens Bruder hatte mich mehr erschreckt, als ich zugeben möchte.
„Das ist ja schon so spät!“, höre ich Ursula eine viertel Stunde später ausrufen. „Ich muss los! Tut mir leid, Mädels. Will jemand mit? Ich muss zum Busbahnhof in der Johannesstraße.“
„Gut! Ich kann auch mitgehen“, sagt Andrea, aber wenig begeistert.
„Ich muss auch los. Aber ich treffe mich gleich mit meinem Bruder“, meint Michaela, mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.
Ich sehe Susanne und Sabine an. „Und was machen wir?“, frage ich verunsichert.
„Wir gehen auch“, sagt Susanne. „Ich habe Hunger. Hat jemand Lust mit mir zum Burger King oder Kochlöffel zu gehen?“
Sabine winkt ab. „Ich esse gleich noch bei Guido.“
Die Kellnerin kommt und wir zahlen alle. Ich nutze die Unruhe am Tisch und sehe mich erneut verstohlen um. Aber von Erik fehlt jede Spur. Dennoch befürchte ich, er könnte noch irgendwo auf mich lauern.
Auch als wir alle aufstehen, lasse ich vorsichtig den Blick durch den Gastgarten schweifen. Mich in der Mitte meiner Mädels haltend, hoffe ich, dass wir hier gut rauskommen und noch ein Stück zusammenbleiben. Ich weiß gar nicht, wo die jetzt alle hinmüssen. Noch nicht einmal, wohin ich eigentlich muss. Aber das verdränge ich erst mal. Ich muss hier nur heile rauskommen.
Der