Aufschwung-Ost. Joachim Gerlach

Aufschwung-Ost - Joachim Gerlach


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von vorn herein zeitlich befristet waren. Unfreiwillig trotzdem, denn ich wäre in Ermangelung anderer Möglichkeiten lieber darin verblieben. Die restlichen 3 Entlassungen waren solche aus betriebsbedingten Umständen. Solcherart Entlassungsgründe kannte man im Osten vor dem fatalen Zusammenbruch überhaupt nicht.

      Nach jeder dieser 6 unfreiwilligen Entlassungen trat ich zunächst als Kunde des Arbeitsamtes in Erscheinung. Mit mehr oder weniger langen Verweilzeiten in diesem System. Allein die Gnade der frühen Geburt verschaffte mir einen vorerst noch sicheren und Platz im Revier der Altersrentner und bewahrte mich vor dem Übel des Absturzes nach Hartz-4.

      Halten wir uns nicht länger bei den Vorreden auf sondern begleiten wir unseren Protagonisten Holstein auf seinem dornenreichen Weg in den nachwendigen Arbeitswelten.

Olstein

      Erste unfreiwillige Entlassung

      Holstein war sich auch im Frühjahr 1992 noch dessen bewusst: Irgendwann würden sie auch ihn benannt finden. Benannt auf unversehrt gebliebenen Karteiblättern, auf in letzter Eile grob zerrissenen karierten und linierten A4-Bögen, auf Magnetbändern, Disketten, Festplatten. Er wusste immer, es war ein Vabanquespiel, sich der trügerischen Sicherheit hinzugeben, die Beweismittel seiner einstigen, inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Schild und Schwert der Partei seien vernichtet, versiebt, nicht mehr auffindbar. Aber die Hoffnung wurde genährt mit jeder Überprüfungsrunde, der er selbst nicht zum Opfer fiel, mit den zeitlich immer größeren Überprüfungsabständen und mengenmäßig immer geringeren Betroffenen. Der größte Schwung von Entlassungen stasi-belasteter Behördenmitarbeiter erfolgte bereits unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages, ein paar der somit entstandenen Lücken wurden mit politisch unbelasteten, noch in der Warteschleife Verharrender aufgefüllt, ein paar andere mit Leuten, die Holstein nicht kannte. Je mehr Zeit verging, desto mehr verdrängte Holstein die Möglichkeit seiner Entdeckung, ließ auch eine in durchaus verständnisvollen Worten formulierte Frist, die der neue Behördenleiter, ein Beamter des Altbundeslandes Baden-Württemberg, zur freiwilligen Meldung noch nicht entgauckter Mitarbeiter setzte, ohne mit nur einer Wimper zu zucken, verstreichen. Was auch hätte ihm diese freiwillige Meldung nutzen können? Die gesetzlich unumgängliche Entlassung aus einer die Gesetzestreue überwachenden Behörde zu vermeiden? Wohl kaum. Und dies zu einer Zeit, da Daniela gleichermaßen von Arbeitslosigkeit bedroht noch keinen festen beruflichen Boden wieder unter ihren Füßen hatte. Zwei Arbeitslose mit zwei Kindern in kostspieliger Ausbildung? Nein, seine Chance lag nur im Verharren, Verharren ohne jedweden weiteren Mucks. Außerdem hafteten da noch erhebliche Relikte elitären Klassenbewusstseins in ihm. Er, der sich in den stürmischen Novembertages des Jahres ’89 als Aktivist für die sozialistische Erneuerung seines Landes eingesetzt und sich als einziger der später en masse aufgeflogenen IM’s vor nahezu allen Mitarbeitern der ehemaligen Planungsabteilung im Rat des Bezirkes dazu bekannt hatte, für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, er, der in jenen Tagen mit seinem Engagement für einen demokratischen Sozialismus, in dem Sach- und Fachkompetenz statt Ideologien vorherrschten, im wahrsten Wortsinn Kopf und Kragen riskiert hatte, dies zu einer Zeit, da die politischen Würfel noch bei weitem nicht gefallen waren, sollte jetzt vor den neuen Herrn zu Kreuze kriechen, vor den nach seiner Sichtweise hochdotierten Handlangern des einstigen Klassenfeindes devot Reue heucheln und demütig um Vergebung bitten? Reue und Vergebung für eine Sache, die er zwar so wie sie real ablief, nicht aber inhaltlich ablehnte? Nie und nimmer! Niemals!

      Die geschichtliche Entwicklung zur schnellen Einheit Deutschlands war so von Holstein nicht gewollt. Indes war er sich, wie schmerzlich diese Entwicklung auch über ihn kam, dessen bewusst, dass jede andere als diese Konfliktlösung zwischen den Systemen, zumal mehrheitlich vom Volkswillen getragen, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit Blut und Tränen, Mord und Totschlag bedeutet hätte. Es wäre müßig, mit ihm darüber zu debattieren, wie es hätte anders ausgehen können. Holstein anerkennt den historischen Prozess als einen streng determinierten, von jeglichen Geschehnissen, die andere Zufälle nennen, befreiten. Geschichte kennt bei ihm nur „war“ und „ist“, niemals „wenn“ und „hätte“. Schon gleich müßig wäre es, mit ihm darüber zu streiten angesichts der Tatsache, da die DDR zum Zeitpunkt ihres Dahinscheidens gegenüber dem westlichen Ausland dollarseitig hoffnungslos zigmilliardenfach überschuldet war, der Abbau des Schuldenberges die Absenkung des ohnehin im Vergleich mit den Brüdern und Schwestern jenseits der Elbe nicht zum Besten bestellten Lebensstandards um wenigstens zwanzig, wenn nicht gar dreißig Prozent zur Folge gehabt hätte, was wohl von den Werktätigen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg kaum mit verständiger Zurückhaltung und wohlwollender Akzeptanz belohnt worden wäre.

      Auch nahm Holstein die statt dessen sich entfaltende generelle Entwicklung in Deutschlands Osten nach der Wende nicht wunder, nicht wirtschaftlich und nicht sozial. Politökonomisch hinreichend geschult wusste er um die generellen Spielregeln kapitalistischer Wirkprinzipien lange bevor er sie am eigenen Leibe erfuhr. Er lächelte über diejenigen, die da noch geraume Zeit daran glaubten, nun würden die maroden DDR-Betriebe endlich flott gemacht, und sich alsbald ihrer Hoffnung und ihres einstigen Arbeitsplatzes betrogen allesamt auf den Fluren der Arbeitsämter wiederfanden. Hatten sie geglaubt, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei ein Wohlfahrtsverein? Hatten sie geglaubt, die linkselbischen Unternehmen würden bei zu Wendezeiten nur achtzigprozentiger eigener Kapazitätsauslastung eine rechtselbige Konkurrenz dulden?

      Dass nach all den Hoffnungen, Sehnsüchten, aufgestauten Erwartungen und darauf begründeten Versprechungen der soziale Ausgleich für die nunmehr gleich dreifach freien Lohnarbeiter Mecklenburgs, Brandenburgs, Sachsens, Thüringens uns Sachsen-Anhalts erst einmal eine gebotene Höhe nicht unterschreiten durfte und entsprechende Mittel fließen würden, ja mussten, war ihm auch klar. Die Zeit würde es noch zeigen, was die Vorhersagen der jetzt die politische Bühne dominierenden Politiker bezüglich blühender Landschaften wirklich taugten.

      So verharrte Holstein, derweil seine Ehefrau Daniela mit dem nunmehr in harte Währung getauschten Geld begann, Möbelstück für Möbelstück, Kücheneinrichtung für Kücheneinrichtung, die Wohnung neu zu strukturieren, die fünfzehnjährige Tochter Maria sich der plötzlich wohlfeilen und allenthalben auch erschwinglichen schicken Klamotten und wohlriechender Kosmetika erfreute, Sohn Sven seinen ersten Commodore-Computer auf den Tisch im Kinderzimmer stellte und sich auf den zehnmonatigen Wehrdienst in der Bundeswehr vorbereitete, gedanklich noch eher im Gewesenen und beruflich am bisherigen Arbeitsplatz in der ehemaligen Bezirks-Planungsbehörde. Die hatte sich mittlerweile zum Regierungspräsidium gemausert, abgespeckt allerdings um mehr als eintausend dort vormals Beschäftigte. Letztere dümpelten vorerst bis zur Entscheidung ihres weiteren Einsatzes in einer sogenannten Warteschleife. Inwieweit die Wartenden dabei erkannten, dass ihre Schleife die sanfte Umschreibung eines wesentlichen Bestandteils leninscher Revolutionstheorie war, des Teiles nämlich, der verlangte, dass der niedergerungene vormalige Staatsapparat letztendlich gänzlich zu zerschlagen sei, und zwar inhaltlich, formell und auch bezüglich seiner subjektiven Akteure, war nicht klar deutbar. Eine erhebliche Zahl der in der Schleife Wartenden war des Wartens sowieso beizeiten müde, entsagte jeglicher Hoffnung, je wieder im Osten Arbeit zu finden und wandte sich gen Westen. Viele darunter auch im Wissen darüber, dass man sowieso schon alsbald ihre geheime Zuträgerschaft zu den Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit ans Licht der Öffentlichkeit bringen würde.

      Holstein blieb von den permanenten, schubweisen Entlassungen verschont. Wäre es nach dem Willen seines letzten Noch-DDR-Vorgesetzten gegangen, dem, den er zur Wendezeit gerade erst kennengelernt hatte und mit dem er so viele unsägliche und heftige Streitgespräche über die Wunderwelt des verblichenen Sozialismus hatte führen müssen, dann hätte es ihn als einen der ersten getroffen, dann wäre es mit ihm auf dieser Arbeitsstelle noch weit vor der Währungsunion im Sommer ‚90 aus gewesen. Wenn, hätte, wäre. Doch die Ergebnisse erster gauckscher Analysen und Aufarbeitungen trafen schon bald ein, der Vorgesetzte musste gehen und Holstein verblieb im Amt, vorerst. Obgleich mit argen Bauchschmerzen, denn die Paragraphen des Einigungsvertrages verlangten die Säuberung jedweder öffentlichen Einrichtungen von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit, offiziellen wie inoffiziellen, egal wann, unter welchen Umständen und wie lange sie dem gebrandmarkten Dienst zur Verfügung standen. Und die Aussiebungen hatten gerade eben erst begonnen .

      Holstein


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