Mein Arbeitszeugnis. Rolf Summermatter
das klingt allerdings interessant. Solche Fälle habe ich sehr gerne! Aber wie kann ich euch beiden helfen?“
„Könntest du nicht mal die beiden Zeugnisse, ich meine das Zwischenzeugnis und das Arbeitszeugnis, unter die Lupe nehmen und uns deine Meinung darüber sagen?“
„Sicher, mach‘ ich sehr gerne. Wann ginge es bei euch denn?“
„Hast du Lust auf eine Cholera bei uns?“ (Speise aus dem Goms/VS)
„Natürlich, du weisst ja, das ist eine meiner Leibspeisen, vor allem wenn sie aus eurer Küche kommt.“
„Schön, das freut mich sehr! Geht es morgen Abend?“
„Ja, das passt sehr gut. Gegen Sieben?“
„Ja, wir freuen uns! Tschüss Roland.“
Cornelia hatte ungeduldig daneben gestanden und versucht, jedes Wort aufzuschnappen, was ihr auch gelungen ist. So musste Reto ihr nichts mehr über das Gespräch erzählen. Stattdessen lud er sie zu einem Apéro und einer Pizza ein.
„Um deinen Abschluss einer schwierigen Zeit zu feiern und auf eine bessere berufliche Zukunft anzustossen!“, unterstrich er seinen Vorschlag. Sie lächelte, hakte sich bei ihm ein und gemeinsam verliessen sie den Stadtpark. Den ganzen Abend über erzählte Cornelia von ihrer Arbeitsstelle, von den Schwierigkeiten, die nach dem Chefwechsel aufgetreten waren, und vom Arbeitszeugnis. Reto hörte geduldig zu und stellte zwischendurch Fragen. Er wusste, dass dies Cornelias Art war, Dinge zu verarbeiten.
Es war sieben Uhr am darauffolgenden Abend. Fast auf die Sekunde genau klingelte Roland an Cornelias und Retos Tür. Beim Apéro im stilvoll eingerichteten Wintergarten hielt es Cornelia vor Spannung kaum aus. Sie platzte heraus: „Das ist ein codiertes Zeugnis! So geht das einfach nicht! Dem werde ich es noch zeigen!“
Die ganzen Emotionen kamen wieder hoch. Roland lächelte. Solche Situationen kannte er aus seiner Beratertätigkeit sehr gut. Er fragte sie nach beiden Zeugnissen, dem Zwischenzeugnis und dem Arbeitszeugnis. Nach dem Lesen schaute er in Cornelias erwartungsvolle Augen und bemerkte: „Ja, da können wir wohl etwas machen.“
„Was heisst eigentlich genau ‚codiert‘?“, wollte Reto wissen. Roland beantwortet diese Frage jeweils sehr gerne.
„Viele sprechen von Codierung, ohne genau zu wissen, was damit gemeint ist“, begann er.
5 Codierung
„Unter Codierungen verstehen wir verschiedene Formulierungen in Zeugnissen, die Interpretationen ermöglichen, also sozusagen Aussagen zwischen den Zeilen enthalten. Es gibt allerdings keinen einheitlichen Code. Da und dort werden diese auch als ‚K.O.-Formulierung‘ oder ‚Floskeln‘ bezeichnet. Es sind ganz einfach zweideutige Formulierungen.
Eine weitere Art der Codierung ist es, gar keine Aussagen zu einem bestimmten Thema im Zeugnis zu machen. Im Fachjargon nennt man es das ‚laute Schweigen‘.
Arbeitszeugnisse gelten ebenfalls als codiert, wenn sie keine messbaren Leistungs- und/oder Verhaltensqualifikationen aufweisen.“
Tipp: Achten Sie auf allfällige Codierungen und Auslassungen von Themen (lautes Schweigen)!
„Aber die Leistung kann man doch messen! Wozu gibt es dann Mitarbeitergespräche und Zielvereinbarungen?“, warf Cornelia dazwischen. „Ungleich schwieriger dürfte es sein, das Verhalten zu beurteilen.“
„Ich glaube nicht, dass dies wirklich schwieriger ist. Man muss nur das Verhalten beobachten und beschreiben können. Ich gebe dir insofern recht, dass es eine Übungssache ist, und je eher ich damit beginne, je eher beherrsche ich das Beschreiben des Verhaltens. Allerdings zähle ich auch das Beschreiben der Leistung zu einer Herausforderung. Aber bei beiden gilt das alte Sprichwort: Übung macht den Meister.“
„Ja, das stimmt. Das weiss ich aus eigener Erfahrung. Aber wie bilde ich das Verhalten in einem Arbeitszeugnis korrekt ab? Kannst du mir da Beispiele nennen für sogenannte fehlende Leistungs- und Verhaltensqualifikationen, für Floskeln und, wie du so schön gesagt hast, für K.O.-Formulierungen, damit ich nachvollziehen kann, was du meinst?“
„Sehr gerne! Hier das erste: Sie erledigte alle Arbeiten mit grossem Fleiss und Interesse. Und gleich ein zweites: Sie bemühte sich, ihre Aufgaben so gut wie möglich zu erledigen.“
Tipp: Überprüfen Sie, ob Ihre Leistung und Ihr Verhalten klar und präzise beschrieben sind und sie einen möglichst kleinen Interpretationsspielraum offen lassen!
Cornelia platzte sofort heraus: „Das tönt doch gut!“
„Ja, es klingt nicht schlecht. Aber überlege einmal, was diese beiden Sätze wirklich aussagen.“
Reto nahm eine Körperhaltung ein, die Cornelia gut von ihm kannte. Er dachte konzentriert nach und auf einmal rief er dazwischen: „Ja natürlich, es wird keine Aussage über die Qualität der ausgeführten Arbeiten gemacht, sondern nur gesagt, dass sie mit grossem Fleiss und Interesse erledigt wurden. Bei der zweiten Aussage ist ja nicht einmal klar, ob sie die Aufgaben überhaupt erledigt hat.“
„Ja, Reto, genauso ist es. Wir können hier noch einen Schritt weitergehen. Ein zukünftiger Arbeitgeber, der dieses Zeugnis liest, könnte es in etwa wie folgt interpretieren: Sie gab sich Mühe, aber ihre Leistungen befriedigten nicht.“
„Ja, das könnte man wirklich so interpretieren.“
„Hast du noch weitere Beispiele?“, fragte Cornelia mit staunendem Blick.
„Ja, hier ist eines: Sie zeigte sich den Belastungen gewachsen.“
Cornelia fügte mit einem Lächeln an: „Jetzt habe ich verstanden: Hier fehlt jede Beschreibung der Qualität und ich würde es in die Richtung interpretieren, dass diese Mitarbeiterin nicht besonders gut war.“
„Gratuliere!“, sagte Roland lachend.
Cornelias Wissensdrang war nun vollends erwacht. „Wir haben jetzt einzelne Sätze angeschaut und waren auf einen Satz, eine Aussage konzentriert. Erkenne ich dasselbe, wenn ich das ganze Zeugnis vor mir habe?"
"Darin liegt oft die Schwierigkeit. Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Genauer gesagt ist nicht immer alles gut, was toll klingt. Es gibt allerdings Möglichkeiten, das zu erkennen.“
„Und welche?“, platzte Reto heraus.
6 Kritisches Lesen des Zeugnisses
„Eine Möglichkeit ist, das Zeugnis aus der Vogelperspektive zu lesen. Ich versuche dabei, mein Zeugnis mit fremden Augen anzuschauen. Dazu lese ich es mir laut und langsam vor. Ich beobachte mich, bei welchen Sätzen ich stolpere und meine Gedanken etwas anderes als das, was dann wirklich folgt, erwarten.“
Cornelia rief dazwischen: „Das verstehe ich nicht!“
„Nun gut, ich gebe dir ein Beispiel: Er arbeitete zu unserer Zufriedenheit. In Gedanken frage ich mich: ‚Mehr nicht?‘ Noch ein Beispiel: Er erkannte Probleme in seinem Arbeitsumfeld und leistete seinen Beitrag zur Lösung. Wie hoch war nun sein Beitrag? Ging er die Probleme aktiv an? Für mich als Leser ist es ein negativer Satz. Möchtet ihr noch ein weiteres Beispiel?
Beide nickten.
„Die