Die Hexe zum Abschied. Günter Billy Hollenbach
13. April
1
Mich bringt nichts mehr aus der Fassung.
Am Ende der letzten San-Francisco-Reise war ich fest davon überzeugt. So kannst du dich irren.
Schwacher Trost: Die drei Oktoberwochen in der Flower-Power-Stadt am „Golden Gate“ hätten bei jedem Menschen Spuren hinterlassen. Wenn er in meinen Schuhen gesteckt hätte.
Im Rückblick neigst du dazu, die Ereignisse zu verklären. Schließlich hast du sie halbwegs unbeschadet überstanden. Bist bemerkenswerten Menschen begegnet, einigen von ihnen sehr nahe gekommen.
Und du hast eine Menge gelernt.
Vor allem, mit Gefahr und Angst umzugehen – auf die harte Art.
Wenn dir zwei chinesische Auftragskiller nachstellen. Als Folge einer guten Zufallstat. Unverdient im Fadenkreuz des Zielfernrohrs eines Gewehrs zu landen verändert nachhaltig, was dir wert und wichtig ist. Zwingt dich zu Verhaltensweisen, die ahnungslosen Außenstehenden seltsam erscheinen.
Du entwickelst eine Art Verfolgungswahn. Nenn es Überlebenswillen.
Die Fußgänger um dich herum betrachtest du mit Argwohn. Achtest unauffällig auf ihren Gesichtsausdruck, die Art, wie sie sich und ihre Hände bewegen. Türen, Fenster, sogar Dachkanten an Gebäuden verwandeln sich in mögliche Gefahrenquellen. Du schärfst den Blick für gepanzerte Limousinen, bemerkst Autos oder Motorräder, die ungewöhnlich langsam an dir vorbeirollen.
Dein Zeitgefühl verändert sich. Alltägliche Erledigungen werden zu einer bewussten Leistung, ein Ansporn zum Weitermachen.
Glück und liebevolle Zuwendung erlebst du bewusster und ein wenig wehmütiger als früher.
Körperlich bin ich recht gut in Form, wenn auch beinahe sechzig Jahre. Im Kopf fühle ich mich weit jünger. Neugier und Beweglichkeit sind mir wichtig und erwiesen sich als sehr hilfreich. Teilweise unfreiwillig, teilweise aus eigenem Antrieb durfte ich in den drei Wochen San Francisco mehr neue Erfahrungen sammeln als normalerweise in einem Jahr daheim. Ich musste mich mit Sachverhalten befassen und Fähigkeiten erwerben, die mir bislang fremd waren, teilweise sogar gegen den Strich gingen. Etwa bezogen auf organisierte Kriminalität, chinesischen Kampfsport und Pistole-Schießen.
Vor allem musste ich lernen: Vorsicht und Können bleiben vergeblich, wenn die Umstände sich gegen dich stellen. Dass dein Leben schlagartig unwiderruflich vorbei sein kann, wurde zu einer greifbaren Erfahrung.
Als zuverlässigste Ratgeberin erwies sich – mehrfach – Cassandra, mein intuitiver Schutzgeist, der mich seit Jugendjahren begleitet.
*
Während des Rückflugs hoch über Kanada, erleichtert wie nach keiner Reise vorher, erschien mir der Aufenthalt in der „Bay Area“ wie ein unbestelltes, nervenaufreibendes, aber bestandenes Überlebenstraining von bleibendem Wert. Ob Wunsch oder Befürchtung; zugleich ahnte ich, auch damit geht es wie mit guten Vorsätzen: Die erworbenen Sicherheitsregeln und schützenden Verhaltensweisen schleifen sich nach und nach wieder ab.
Weil ich keinen Bedarf mehr dafür habe in meinem gewohnten Leben. Im friedlichen Steinbach nahe Frankfurt glaubte ich mich vor vergleichbaren Herausforderungen sicher.
Das erwies sich ebenfalls als Irrtum.
2
Als geschiedener Single ohne Geldnöte lebt es sich gut. Mein Apartment bietet reichlich Platz, ein Wohn- und ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer sowie einen Meditations- und Kraftsport-Raum.
Meine Tätigkeit als Verhaltens-Coach macht mir Spaß.
Diese Lebensweise aufzugeben wäre mir noch vor einem Jahr kaum in den Sinn gekommen. Bis an einem Samstag Mittag im vorigen Juli zwei fremde Welten heftig zusammenstießen.
Ein unschöner Vorfall in der Frankfurter Goethe-Straße zwang mich, in einem VW-Bus der Kripo Platz zu nehmen. Für die notwendige Befragung setzte sich mir Kriminalhauptkommissarin Corinna Sandner gegenüber, damals noch zuständig für schweren Raub. Inzwischen arbeitet sie im Dezernat K 11 „Kapitaldelikte“, Schwerpunkt „Straftaten gegen Leib und Leben“ im Frankfurter Polizeipräsidium.
Frau Sandner stellte sich höflich vor, fragte ruhig, sachbezogen und ohne Argwohn, zeigte Interesse an meiner beruflichen Tätigkeit. Dabei sah sie mich durchgängig offen und wohlwollend an; einmal mit einem Blick und einer Handbewegung seitwärts durch die Haare ... Jedenfalls bin ich rot geworden. Eine Woche später, bei einer zufälligen Begegnung in einem Einkaufzentrum an der Zeil, hockten wir fast zwei Stunden bei Tee und Nussecken zusammen. Und fanden gute Gründe, uns miteinander zu beschäftigen. Zunächst beruflich, dann mehr und mehr privat.
Sich in die Augen schauen, lächeln, reden, spazieren gehen.
In kleinen Schritten kamen wir uns näher. So geht das gewöhnlich in unserem Alter. Der unerwartet brutale, nächtliche Angriff eines missgünstigen Kollegen auf Corinna und mich sowie die anschließenden Ermittlungen festigten unsere Beziehung beträchtlich. Dennoch folgte daraus für Corinna nicht zwangsläufig ein gemeinsames Wohnen. Sie schätzte ihre Unabhängigkeit; das Alleinleben war ihr vertraut und angenehm; Jahre länger als mir.
Für ihre Einstellung hatte ich durchaus Verständnis.
Ende Oktober kurz nach meiner Rückkehr aus San Francisco geschah das Unerwartete. Corinnas Sonnenseite zog bei mir ein. So lautet ihre offizielle Begründung. Was soll ich gegen überzeugende Argumente einwenden?! Meine anfänglichen Bedenken gegen halbe Sachen erhöhten nur ihre Entschlossenheit.
Also kaufte ich in neues Doppelbett mit körpergerechten Matratzen. Die planvollere Aufbewahrung meiner Jacken, Hemden und Hosen im Kleiderschrank schaffte den nötigen Platz für das mäßig anspruchsvolle weibliche Bekleidungseinerlei. Seither genieße ich beinahe jede Minute eines unverhofften Familienlebens der Marke Flickenteppich.
Corinnas Schattenseite und ein Teil ihres Standard-Outfits – Jeans, Blusen, Sweatshirts sowie dezente Jacketts – blieben in Frankfurt. Von Montag bis Freitag nutzt