Mit Rad Und Zelt - immer der Nase nach. Bernhard Inderst
in einem Mischanbau gepflanzt werden.
Tiere tragen zur Geruchsvielfalt bei. Eine Schweinezucht riecht schon aus einer großen Entfernung - und das nicht gut-, Kuhherden oder gedüngte Felder durch Kuhmist, Freilandzüchtungen von Gänsen, Enten, Hühnern, Tiertransporte in überholenden LKWs bis hin zu verwesendem Fleisch durch überfahrene Tiere, all das trägt zur Vielfalt von Gerüchen bei.
Menschen, die mir begegnen, die ich überhole oder die einen selbst auf Fahrrädern überholen, hinterlassen Geruchsfahnen, Frauen andere als Männer und Kinder. Manche Parfüms riechen gut, andere sind nicht zu ertragen. Manche Kleidung sollte mal wieder gewaschen werden. Vielleicht habe auch ich das eine oder andere Mal solch eine Geruchsfahne hinterlassen.
Auch Straßen tragen je nach Verkehr entscheidend zur Geruchslage bei. Es gibt eine kritische Dichte des Verkehrs, ab der verschiedene Gerüche der Natur nicht mehr zu unterscheiden sind. Dafür rieche ich die Unterschiede der verschiedenen Abgase. Ich rieche, ob ein Motor vollständig verbrennt, ob es sich um Diesel oder Benzin handelt, ein Moped stinkt besonders stark.
Industrieanlagen verändern die Geruchslage radikal. Ich kann die verschiedenen Fabriken riechen, bei manchen errate ich sofort, was darin produziert wird. Fabriken, die Lebensmittel produzieren, bergen die Gefahr, dass mir die Lust auf dieses Produkt vergeht. So z.B. fahre ich in einer Vorstadt von Sevilla an einer Raffinerie von Olivenöl vorbei, ich kann den Geruch schon von weitem erfassen, er verdirbt mir den Appetit auf Olivenöl. Grausam. Aber auch sonst bin ich froh, wenn die Industriegebiete nicht allzu groß sind und man sie schnell durchradeln kann.
Städte haben natürlich auch eigene Gerüche. Viele dieser Gerüche in einer Stadt setzen sich zusammen aus einem bestimmten Gemisch von Abgasen - und natürlich - zubereitetem Essen, den Cafés, Restaurants. In Frankreich kann man riechen, wo sich die Boulangerie, der Bäcker oder ein Café in der Nähe befindet. Jede Kanalisation riecht anders, manch Gullydeckel und manche Mauerecke als Pissoir veranlassen die sofortige schnelle Flucht. Reine Schlafviertel, tagsüber verlassen, riechen anders als Viertel, in denen tagsüber sichtbar ein buntes Treiben herrscht. Viertel mit mittelständigen Werkstätten, z.B. Autogaragen, riechen anders als reine Industriegebiete.
Insgesamt kann ich sagen, dass kein Geruch zweimal vorkommt; jeder Umgebung wohnt ein eigenes Gemisch von Duftstoffen inne, die einmalig sind und durch ihre Vielfalt als eine unverwechselbare Duftmarke eines bestimmten Orts zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Wetterlage zu einer bestimmten Tageszeit bezeichnet werden kann.
Radfahren stärkt den Geruchssinn und ermöglicht es, diese Duftmarken zu differenzieren und im Gedächtnis zu bewahren. Bei manchen Gerüchen ist man froh, dass sie nur kurzfristig sind und man sie schnell durchradelt hat, bei manchen bleibt man stehen und genießt sie und stellt dann fest, dass der Geruch sich permanent ändert. Spannend.
Ein interessanter Aspekt ist auch das von der Fahrtrichtung abhängige Farbenspiel. Während des Radelns in die Ost-West Richtung sticht die Sonne spätestens ab Mittag in die Augen. Da ich es vermeide, eine Sonnenbrille zu tragen, die mir alle Farben eintönig verändert, werden die Farben heller, blauer, weißer; es ist wie eine Aufbruchsstimmung, die mich ansteckt. Schließlich befinde ich mich ja tatsächlich im Aufbruch, in Richtung meines Zieles Portugal. Auf der Rückfahrt dagegen steht die Sonne entsprechend im Rücken, die Tage werden kürzer und dadurch steht die die Sonne viel schneller tief, was sich im Leuchten des Laubs der verschiedenen Baumsorten wiederspiegelt. Das warme Licht der rot-gelb-grün Gemische von Baum und Wiese, gepaart mit einem Tiefblau einzelner Seen machen wehmütig und unterstreichen, dass die Fahrt bald zu Ende geht.
Und - entsprechend dem Geruchssinn- es ändert sich auch der Geschmacksinn entsprechend. Darauf gehe ich Laufe der Aufzeichnung immer wieder ein. Nur so viel: Es schmeckt immer. Liegt es daran, dass man Fahrrad fährt und alle Sinne auf Aufnahme geschaltet hat, liegt es daran, dass ein guter Côte du Rhône Wein eben an der Côte du Rhône einfach durch seine Umgebung anders, meist besser schmeckt, liegt es daran, dass eine salzige Umgebungsluft Lebensmittel mit anderen Zusätzen versieht als zu Hause?
Alles das gehört auch zu einer sich verändernden Wahrnehmung, zu einer Reiseerfahrung.
Neugier als Motivation
Die Motivation entwickelt sich im Laufe der Reise immer wieder neu. Zur Wiederentdeckung der Stätte meiner Kindheit gesellt sich die Neugier auf die Reise selbst. Man kann zwar nicht bei der Planung bereits alle Eventualitäten überblicken, aber die Aussicht auf etwas Neues, Unplanbares macht ja genau den Reiz der Reise aus. Warum ich das mache? Warum ich die Strapazen auf mich nehme? Am Ende bin ich über 5700 Kilometer geradelt, habe 81 Campingplätze aufgesucht, von den 27 Wochen war ich 22 allein unterwegs. Warum? Genau das wurde ich unterwegs 100-mal gefragt. Warum machst du das? Abgesehen davon, dass z.B. in Portugal viele Leute mir erst gar nicht glauben wollten, dass ich mit dem Fahrrad da bin.
Aber für mich ist der entscheidende Punkt: Nicht warum ich diese Reise mache, soll die Frage sein, sondern wie ich meine Neugier stillen kann. Fühle ich mich zufrieden während meiner Reise? Es sind Chancen des Lebens, die ich nutze. Die Fahrradfahrt führt durch die Landschaften West-Europas. Da man natürlich immer nur einen Pfad, einen Weg befährt, stellt sich immer wieder die Frage: Was verpasse ich, weil ich diesen und nicht einen anderen Weg nehme? Nutze ich die Gelegenheit richtig? Am Ende meiner Reise habe ich viele tolle Wege gefunden, aufregende Landschaften entdeckt, gute Luft genossen, aber auch manche Zersiedelung, manchen Kahlschlag, manchen Waldbrand, manche Umweltverschmutzung gesehen, was mich traurig gemacht hat.
Eben weil ich viele der Gegenden von früher kenne, sehe ich auch Veränderungen - positive wie negative. Ich sehe sowohl die Zerstörung, die ungebremste Urbanisierung, die sich in Form von uniformen Neubausiedlungen darstellt, die Industrialisierung als auch manch neuen Naturpark, manche Wiederaufforstung. Das sind Inseln, Inseln für das gute Gewissen. Aber nicht mehr als das. Ein Wald 200 Meter neben einer stinkenden Papierfabrik kann die schlechten Gerüche nicht auffangen. Ein Strand, neben dem ein Industriehafen gebaut wurde, wird immer Müll und Öle enthalten. Ein Dorf, durch das eine vielbefahrene Nationalstraße führt, ist eigentlich tot. Man merkt auf Schritt und Tritt, dass es scheinbar keinen Plan gibt, wie Natur und Industrialisierung in Einklang zu bringen sind. Insellösungen, einzelne Initiativen und lokale Vorstöße prägen das Bild. Natürlich ist es spannend zu beobachten, wie der vermehrte Druck auf die Politik zum Erhalt der Umwelt und zur Renaturierung die Landschaften verändern, aber die meisten Lösungen enden momentan dort, wo die Touristenhochburgen aufhören. Dort gibt es schöne, ausgeglichene Parkanlagen, bewusste Ökobereiche, die jedem Touristen klarmachen sollen, dass die Politik bereits alles Mögliche unternehme. Ein paar Kilometer weiter aber ist nichts mehr von diesen Lösungen zu sehen. Das ist eine traurige Erkenntnis dieser Reise.
Aber zurück zur Neugier. Natürlich mache ich mir Gedanken, welche Neugier auf welche Dinge nun meine Fahrt prägen wird. Sie wird sich nicht nur auf den Wechsel der Landschaften mit ihren verschiedenen Gerüchen erstrecken, sondern auch darauf, unter welchen Lebensumständen die Menschen leben. Wo sind die sozialen Zentren und wie werden sie gelebt? Was macht eigentlich das Stadt-Land-Gefälle in einer bestimmten Region aus? Interessant ist, dass lokale Zentren in Westeuropa maximal 50 Kilometer auseinanderliegen. Wieviel Felder, Wälder und einsame Gegenden ich auch abfahre, nach spätestens 50 Kilometern treffe ich mindestens auf eine mittelgroße Stadt. Da die meisten dieser Knotenpunkte eine lange Geschichte hinter sich haben, vermute ich, dass die 50 Kilometer auch früher schon eine gewisse Größe war, mit der die Menschen sich vernetzen konnten, als es noch keine Autos gegeben hat.
Für mich als einen Menschen, der relativ oft vereist, ist es ein Türöffner, um die Menschen zu erreichen, eine Sprache soweit zu beherrschen, dass ich mich in einem normalen Small Talk unterhalten kann. Ich versuche während meiner Reise konsequent, meine rudimentären Kenntnisse in Französisch und Spanisch zu nutzen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und weigere mich, auf Englisch weiterzureden, wenn mein Gegenüber auf Englisch antwortet. Gerade auf den etwas abseits gelegenen Strecken ist es ungemein hilfreich, nicht zu erwarten, dass jeder Englisch oder Deutsch beherrscht. Ich hatte mehr als einmal sehr nette Gespräche dadurch. In Portugal war es aufgrund meiner Geschichte natürlich ein Heimspiel