Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Großmutter brannten Kerzen. Zunächst sah ich nichts als eine weiße, zerfließende Masse, von den Füßen bis zum Kopf war die Kohlkoppen nicht in das herrliche Weiß eines Segels am Sommertag gehüllt, sondern in das graue, schmutzige oder bestaubte Weiß, wie ich es hier zum ersten Mal sah. Weiter erblickte ich einen formlosen Klumpen, einen Haufen grünlichen Stoffes, den ich zu meinem Schrecken als die Hände meiner Großmutter erkannte oder eben nicht erkannte, den Händen fehlte das Leben. Man hatte sie nach christlicher Bestattungssitte gefaltet, aber den übereinanderliegenden, halb miteinander verflochtenen Händen gebrach es an Kraft und an Wärme. Schwer konnte ich mir vorstellen, dass mich diese Hände noch vor ein paar Tagen gestreichelt hatten. Meine Großmutter war eigentlich brünett. Jetzt sah ihr Gesicht grünlich-grau aus. Auch die weißen Haare wirkten leblos wie Glaswolle. Ich sagte mir, diese furchtbare Starre, diese absolute Reglosigkeit, dieses endgültige Nichts, das ist der Tod, der gleiche, der mit den Stukas fliegt, und so ähnlich wie meine Großmutter sehen die Kinototen in Wirklichkeit aus, wenn man sie aufbahrt, was man ja zweifellos tut, denn jeder Tote hat Angehörige. Zugleich kontrollierte ich diesen Einfall, der mit persönlicher Trauer um einen Menschen gar nichts zu tun hatte, und mir fiel ihre Frage ein: Wer wird der erste Tote unserer Familie sein? Für mich verknüpften sich endlich beide Ereignisse, Krieg und Schrecken, ich fand einen Zusammenhang darin und stand ziemlich ratlos und nach Fassung ringend vor dieser Toten.
Meine Tante Barbara trat näher an den Sarg heran. Ich wurde erst gewahr, dass sie einen Handstrauß mitgebracht hatte, als sie versuchte, die Hände der Toten zu lösen, um den Strauß dazwischen zu stecken. Ich fand die Kaltblütigkeit meiner Tante beachtlich, wollte ihr nicht nachstehen und tat unbedachterweise einen Schritt auf den Sarg zu. Da schlug mir ein unbeschreiblicher Geruch entgegen. Ich wankte, flüchtete zurück, prallte gegen meinen Großvater, der meine Schultern fasste und mich wie einen Schild vor sich hielt. Unterdessen war ein Mann herangekommen, der meiner Tante half. Er trat hinter den Sarg zurück, und ich entdeckte einen zweiten Mann. Beide hielten Mützen in den Händen. An ihrem Ernst und Respekt fand ich meine Haltung wieder. Mich umdrehend, sah ich meine Familie hinter uns versammelt. Ich stand ganz vorn, man billigte mir eine wichtige Rolle zu. Die Tote hatte an mir gehangen, an ihrem ersten Enkel, die Familie setzte Hoffnungen in meine Entwicklung, und hier in der Leichenhalle entdeckte ich den Vorzug, jung zu sein, alles noch vor mir zu haben: das Leben.
Als wir hinaufgingen, hallten die Schläge, und auf meinen fragenden Blick sagte mein Großvater, man schließe jetzt den Sarg. Wir traten in die Kapelle ein. Der Pfarrer kam uns entgegen. Er reichte allen die Hand, dann formierte sich ein Zug, und der Geistliche setzte sich an die Spitze. Eine Orgel begann zu spielen, ein Chor sang: Ein feste Burg ist unser Gott / Ein gute Wehr und Waffen / Er hilft uns frei aus aller Not / Die uns jetzt hat betroffen / Der alt böse Feind / Mit Ernst er's jetzt meint; / Groß Macht und viel List / Sein grausam Rüstung ist; / Auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Ich unterwarf mich willenlos dieser Stimmung, ähnlich der in unserer Aula. Während die Orgel ausklang, legten wir unsere Kränze und Sträuße in die Hände der Männer, die den Sarg aufgestellt hatten. In der Kapelle brannten zahlreiche Kerzen, trotzdem stieg eisige Kälte von den Fliesen auf. Ich saß neben meinem Großvater und meiner Tante Barbara.
Wir beteten schweigend. Das heißt, ich betete nicht, faltete nur die Hände. Ich hatte kein Gebet, und es kam mir sinnlos vor, eine Formel an einen Unsichtbaren zu richten, der das alles ja gewollt hatte oder zumindest zugelassen. Mich in ein Stillhalten und Zustimmen zu begeben, einen Dank auszudrücken oder mich überhaupt menschlich zu diesem Tod zu verhalten - das brachte ich noch nicht fertig.
Nach der Einleitung sprach der Geistliche. Ich hörte einen zusammenhängenden Bericht über das Leben meiner Großmutter, hörte, dass sie in Schwedt geboren war, 1880, Weißnäherin lernte, früh heiratete, in glücklicher Ehe gelebt hatte und ohne lange Krankheit gestorben war. Mir schien das wenig, ihre Lebenslust, ihre Güte und Tatkraft, ihre äußere Erscheinung blieben mir unberücksichtigt. Der Geistliche kannte meine Großmutter nicht so wie ich.
Es war von Auferstehung die Rede.
Die Tote sollte entweder jetzt schon oder in Kürze strahlend zum Leben erweckt werden, in eine friedliche Ferne gerückt auf uns warten. Demnach würde ein andersgeartetes Leben anfangen. »Nimm ihre Seele auf in das himmlische Paradies, wie du die Seele des Schächers am Kreuz hast aufgenommen. Lass ihre Seele von den lieben Engeln getragen werden wie die Seele des armen Lazarus und verleihe ihr eine fröhliche Auferstehung am Jüngsten Tag. Erhöre uns; 0 Vater aller Gnaden, an seiner Statt. Erhöre deinen Sohn, unseren einzigen Heiland und Mittler, der zu deiner Rechten sitzt und für sie und uns alle bittet, und sei uns gnädig um des Verdienstes seines heiligen Leidens und Sterbens willen. In solchem Vertrauen befehlen wir ihre Seele in deine väterliche Huld. Amen.«
Die Feier strebte ihrem Höhepunkt zu, und ich verstand immer weniger. Weinen konnte ich nicht, als die Familie auf den Plätzen hinter mir das herbeigerufene oder aufgestaute Leid in Tränen und Schmerzenslauten kundtat. Ich fühlte diesen Sog, wusste, dass ich noch etwas Anderes, Wichtigeres empfand, ohne den klaren Ausdruck dafür zu finden. Unter Orgelklang wurde der Sarg hinausgefahren. Und wieder formierte sich der Zug hinter dem Geistlichen, dem Wagen mit dem Sarg. Dicht dahinter ging ich mit meinem Großvater und meiner Tante Barbara, trug meinen Strauß und blinzelte in die fahle Wintersonne. Der Schneeregen hatte aufgehört. Es roch mich Nässe, nach modernden Pflanzen und frischem Tannengrün. Wind blies lichte Wolken vor die Sonne, das ergab ein Wechselspiel von Licht und Schatten. Im Licht sah die schwarze Kleidung verstaubt und erbärmlich aus.
Wir erreichten die Grube. Dort hockte ein Totengräber mit Hacke und Spaten, er zog sich zurück, als er uns kommen sah. Und nun wickelte sich alles schneller ab, als ich geglaubt. Mit geübten Griffen zogen die Leichenträger Stricke unter den Sarg, betraten zwei starke Bohlen links und rechts der Grube. Jemand vorn sprach eine Formel, Ruhe in Frieden, und der Sarg senkte sich. Zu Erde sollst du wieder werden. Wir warfen drei Hände voll Erde auf den Sarg und drückten uns die Hände, wie mir schien, nach einer feststehenden Regel.
Dann griff das Leben wieder nach uns.
In der Seumestraße hatten Frauen das Essen vorbereitet; da allen kalt war, wurde Schnaps und Wein getrunken. Die Männer rauchten. Noch waren die Spiegel zugehängt, aber der Duft nach gebratenem Fleisch durchzog die Wohnung. Vereinzelt führten Angehörige wieder normale Gespräche, über die Lage, über den Krieg, über die Geschäfte, über alles Mögliche. Dazu tranken sie immer mehr, und endlich wurde die Suppe aufgetragen. Ich saß neben Tante Barbara und neben meinem Großvater als eine der Hauptpersonen, eine Rangerhöhung, die ich begriff und die mir gefiel. An der einen Seite der Tafel saßen meine Mutter Verena Stadel und mein Vater, an der anderen Auguste Meister, geborene Arzt, mit ihrem Mann, einem Oberstudienrat. Letzterer war mir unheimlich. Mir fiel auf, dass keiner der Gäste den Oberstudienrat ansprach ...
»Das war so, meine arme Gusti hatte Heinz während des Studiums kennengelernt. Sie hatte, ich glaube sechsunddreißig, eine Fehlgeburt mit ziemlichen Komplikationen. Jedenfalls musste sie sich einer Operation unterziehen, mit der Folge dauernder Unfruchtbarkeit. Darauf ließ sich Heinz mit anderen Frauen ein. Das wussten wir. Gusti litt unter all diesen Dingen, wie nur eine Frau leiden kann. Wir verachteten Heinz ...«
Weiter am Tisch saßen mein anderer Großvater, Friedrich Wilhelm Arzt, und seine Frau. Mein Bruder Felix lief hin und her. Vier Jahre alt, begriff er noch nichts, mein Bruder, mein kleiner Bruder. Die übrigen Gäste standen der Toten nicht sehr nahe, nicht so nahe wie wir.
Es gab Fisch und als Hauptgericht Fleisch mit Gemüse. Wir aßen so üppig wie sonst auch. Spät am Abend fuhren wir nach Hause. Erschöpft schlief ich bis in den Mittag. Von der Schule war ich befreit worden.
Am folgenden Tage ging ich zu Barbara Arzt. Meine Tante beugte sich über das Zeichenbrett, sie trug hohe weiche Filzstiefel, eine lose hängende Bluse mit einer dicken Strickjacke darüber und einen wollenen braunen, langen Rock. Der Kälte wegen brannte ein elektrischer Heizofen. Von der Zentralheizung stiegen Wärmewellen gegen das Fenster auf. Ich bildete mir ein, die warme Luft flimmern zu sehen. Meine Tante hielt den Pinsel mit den Zahnen, strich sich das Haar nach hinten und steckte es mit einigen Spangen fest. Ich zog meine Schuhe aus und schob dem Hund die Füße unter den Bauch. Wenn meine