Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

Dame in Weiß - Helmut H. Schulz


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meine Schwester Barbara anzurufen, sie möchte herkommen.« Dann konnte meine Mutter nicht weitersprechen, sie krümmte sich und stieß einen sonderbar hellen, abgebrochenen Schrei aus, der mich traf wie ein Hieb auf den Magen.

      Die Hebamme war damit beschäftigt, Bretter vor die Fenster, zu nageln, auf dem Fußboden lagen Glassplitter. Man bekam sie selten ganz aufgefegt, das Glas löste sich unter dem Druck der Detonationen in Glasstaub auf, er blieb in den Dielenritzen hängen, maserte die Möbel - man gewöhnte sich an das Knirschen unter den Schuhsohlen.

      Die Hebamme, eine dicke Frau mit Brille, hatte sich ein paar Nägel zwischen die Zähne geklemmt, sie legte ein Brett an, ich hielt das andere Ende fest, und sie klopfte den Nagel ungeschickt ein.

      »Wie heißt sie?«

      Ich nannte unseren Namen. »Sie hat Schmerzen.«

      Die Hebamme schob mich beiseite und schlug die andere Seite des Brettes fest, im Zimmer herrschte jetzt Halbdunkel, das Weiß der medizinischen Einrichtungsgegenstände glänzte kalt und fahl und flößte mir Schrecken ein.

      »Sie soll sofort kommen.«

      Wir gingen in die Küche, die Hebamme nahm eine Kanne vom Herd. Sie goss sich ein Zeug ein, das schwarz aussah, aber nichts mit Kaffee zu tun hatte. Dann brach sie ein Stück Weißbrot ab, schob es in den Mund und trank von dem schwarzen Zeug.

      »Habt ihr eure Fenster heute Nacht behalten?«

      Ich nickte, bei uns waren die Glasfenster drin geblieben. »Ich halte mich an Bretter. Fliegen sie raus, habe ich sie mit ein paar Nägeln wieder dran.«

      Ich saß wie auf Kohlen, aber ich traute mich nicht, sie anzutreiben. Sie redete mit mir, als hätte sie einen Erwachsenen, einen mit allen Fragen einer Geburt Vertrauten vor sich.

      »Keine Sorge, das Kind liegt ganz normal. Es ist ihr Drittes. Ich hab euch beide geholt.« Sie schluckte. »Wo ist dein Vater?«

      »Im Krieg, aber kein Soldat.«

      »Ach ja, dein Vater ist ja was Technisches.« Sie wischte sich den Mund und lehnte sich zurück; dann rauchte sie.

      »Donnerwetter, wollen Sie nun endlich kommen!«

      Sie lachte, rauchte weiter und schüttelte mehrmals den Kopf. Ich sagte nichts mehr, ich stand auf und ging zur Tür.

      »Warte doch«, sagte sie, »du musst mir doch helfen.«

      Wir packten ihre Sachen ein, verschiedene blitzende Instrumente, deren Aussehen nichts über ihren Gebrauch verriet.

      Unterwegs - ich trug ihre Sachen, sie half sich mit einem Stock weiter - sagte ich, dass ich meiner Tante telefonieren müsse, sonst wäre niemand als Hilfe im Hause.

      Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät.«

      Ich schloss die Wohnungstür auf und führte die Hebamme ins Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter saß mehr auf dem Bett, als dass sie lag. Das Haar klebte ihr feucht am Kopf. Die Hebamme erschrak. »Los, setz Wasser auf, schnell, viel Wasser.«

      Ich stellte ihre Sachen hin, stand begriffsstutzig da; sie drehte mich bei der Schulter herum und schob mich hinaus. In der Küche stellte ich alle Töpfe und Kessel, die ich fand aufs Gas, suchte nach Schüsseln und Wannen. Sie kam, wusch sich gründlich mit heißem Wasser die Hände, ich suchte in ihrem Gesicht nach Spuren einer Katastrophe - bahnte sich hier ein Drama an? Was, wenn Verena stürbe und das Kind am Leben bliebe?

      »Geht euer Telefon?«

      »Bis vorhin ging es noch nicht.«

      »Der Krieg hat was Gutes«, sagte die Hebamme. »Er hat euch zu richtig brauchbaren kleinen Männern gemacht. - Hoffentlich schlafe ich nicht ein.«

      »Ich kann Ihnen eine Tasse Kaffee kochen«, ich wusste, wo Kaffee für den Notfall aufbewahrt wurde, und ich sah, dass sich die alte Frau nur mühsam auf den Beinen hielt.

      Erfreut nickte sie. »Ich hatte wenig Schlaf.«

      Auch wir hatten kaum geschlafen.

      »Und wenn wir Alarm kriegen, was machen wir dann?«

      »Dann musst du deine Mutter runter schleppen, und sie wird ihr Kind im Keller zur Welt bringen.«

      Wir brühten Kaffee, ich selber trank auch davon.

      »Wie alt bist du?«

      »Zwölf.«

      Sie sah mich aufmerksam an. Anscheinend gefiel es ihr, wie ich mich hielt. Sie nickte befriedigt und gab eine Erklärung ab: »Das Kind ist bei deiner Mutter im Bauch, das weißt du, und es ist viel größer als ...«, sie suchte nach einem Ausdruck, der für mich passte, und überschlug den Satz. »Kurz gesagt, wir werden beide alle Hände voll zu tun haben, aber es wird schon klappen. Du bleibst hier, bis ich rufe, dann bringst du heißes Wasser, wir müssen deinen Bruder oder deine Schwester baden. Was ist dir eigentlich lieber, Bruder oder Schwester?«

      Ich zuckte die Schultern, es war mir gleich.

      Sie drängte: »Du musst doch eine Meinung haben - du, ein vernünftiger Junge?«

      Ich tat ihr den Gefallen. »Einen Bruder, wie mein Bruder Felix.«

      Sie erinnerte sich. »Den hab ich auch geholt. Wo ist er denn?«

      »Bei meinen Großeltern, er kommt dieses Jahr zur Schule.«

      Ich assistierte ihr, so gut ich konnte. Alles ging gut. Dann lag das Kind in den Armen der Hebamme, es hatte dunkle Haare und dunkle Augen, es schrie kläglich und anhaltend, was die Hebamme sichtlich erfreute. Ich sah zu, wie sie das Kind badete.

      »Es ist ein Mädchen.«

      »Das seh ich.«

      Im Badewasser trieb eine lange bläuliche Schlange mit einem blutigen Stumpf, als hätte dort der Kopf der Schlange gesessen. Die Hebamme legte das Kind auf ein großes weiches Tuch, die bläuliche Schlange wurde zusammengebunden.

      »Wird das wegoperiert?«

      »Es fällt von allein ab. - Ein wunderschönes Mädchen, Frau Stadel.«

      Meine Mutter bekam das Kind an die Seite gelegt. Die Augen meiner Mutter waren blau, ihr Haar und ihre Haut waren hell. Die Hebamme ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder und lehnte den Kopf an die Wand.

      »Machen Sie sich jetzt keine Gedanken, Frau Stadel«, warnte sie, »es ist Krieg, und Ihr Mann ...« Meine Mutter schickte mir einen Blick zu, den die Hebamme bemerkte. Sie verstummte.

      »Wie soll das Kind denn heißen?«

      »Kriemhilde.«

      »Auch das noch. Schicken Sie Ihren Jungen zum Standesamt, die Geburt anmelden. Der Bengel ist anstellig - viel zu weit für sein Alter.«

      Meine Mutter nickte. Sie drückte das Neugeborene vorsichtig an sich, ich fühlte Eifersucht aufkeimen. Dieses Gefühl wurde durch das der Scham verdrängt. Ich ahnte einen Zusammenhang zwischen dem jungen Fliegeroffizier und dieser Schwester, und zum Schrecken über das moralische Vergehen meiner Mutter gesellte sich Verachtung. Zuletzt überwog Mitleid mit ihr, die das alles eben mit einer tiefen Erschöpfung bezahlte.

      Meine Mutter schlief, das Neugeborene schlief, sie erwachten, meine Mutter stillte das Kind, ich sah zu, wie aus den Brüsten meiner Mutter Milch quoll; es gelüstete mich, diese Milch zu kosten; aber ich war bereits so etwas wie ein Mann, zwischen ihr und mir standen schon die Zeichen des anderen Geschlechts. Von Erziehung zur Natürlichkeit konnte in der Familie keine Rede sein, ich war allein in den Nächten, unwissend, mit schmerzhaft erigiertem Glied, und hatte keine Ahnung, was in meinem Körper vor sich ging. Meine Freunde wollte ich nicht fragen, ich ahnte auch, dass sie nicht klüger waren als ich. Wir lebten in barbarischer Keuschheit unter dem Schreckgespenst, das Selbstbefleckung hieß.

      Meine Tante Barbara konnte nicht kommen, sie war, in Weimar dienstverpflichtet bei Siemens. Meine Tante Gusti konnte nicht kommen, sie erteilte Unterricht in einer Schule weitab, mein Vater hatte das Telegramm nicht


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