Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
der Hitlerjugend, das Horst-Wessel-Lied; wir zogen zu den Stätten vergangener Kämpfe und gedachten schweigend der Opfer.
»Jedenfalls hattet ihr eine Aufgabe, ihr wusstet, wohin, und du bist wie deine Freunde gern in die Jugendstunden gegangen. Leider hattest du schon etwas übertrieben Hartes in deinem Wesen, etwas Introvertiertes, möchte ich sagen, das wurde durch diese Erziehung nur noch verstärkt, aber das lag wohl überhaupt in der Zeit. Was ich damals an Heftpflaster für dich verbraucht habe ...«
Die Aufmärsche aus irgendwelchen Anlässen, auf dem Reichssportfeld, auf dem Tempelhofer Feld: hunderttausend uniformierte Jugendliche, Tausende Fahnen aus allen Gebieten und Gauen, eine Reiterkavalkade mit wehenden Bannern, Motorradstaffeln - unten auf dem Feld sorgsam gedrillte Jungen, die sich auf Kommando drehten und wendeten. Sonnenwendfest. Riesige Holzstöße loderten, im exakten Karree die deutsche Jugend, schweigend ...
Meine Tante Barbara erregte sich, ihre Stirn glänzte feucht. Das Pony musste verkauft, der Neufundländer nach Hammelspring gebracht werden Auguste, die Schwester Verenas und Barbaras, Verena und ich saßen um den Tisch in der Veranda. Die Türen waren geschlossen, es wehte durch die Ritzen. Barbara stocherte wütend im Ofenloch herum und legte große Holzscheite nach.
»Also, was wollt ihr von mir?«
Das Haar hing ihr seitlich über die Schläfen, sie sah blass aus - ich war auf Distanz gegangen und wartete ab, was geschehen würde.
»Es hat keinen Zweck, sich zu sträuben, wenn Vater das Haus verkaufen will. Er braucht es nicht, und du ...«
Barbara nickte ihrer Schwester Gusti zu. »Und ich? Es ist wahrhaftig nicht meine Schuld, dass du und Heinz nicht miteinander auskommt.«
Sie unterbrach sich und meine Mutter sagte mit schwerem Seufzer: »Unter Schwestern - Herrgottnochmal. können wir denn nicht mal einen Augenblick lang, ich will ja nicht sagen, Liebe füreinander empfinden, das ist wohl nicht möglich, aber doch wenigstens Verständnis aufbringen?«
»Verständnis? Nennen wir doch das Kind beim Namen, ihr wollt mich los, sein, mich, das schwarze Schaf.«
»Du hast dich selbst zum, schwarzen Schaf gemacht.«
Sie fuhr auf. »Seit wir diesen irrsinnigen Krieg haben, seid ihr alle verrückt geworden, aber denkt an mich, es wird ein schlimmes Ende nehmen, und dann wird das Geschrei groß sein über uns angetanes Unrecht.«
Gusti lächelte überlegen, und Verena winkte ab.
»Ja, lassen wir das«, sagte Barbara. Sie ließ sich in einem Sessel nieder, zündete eine Zigarette an, und ich sah ihre Hände zittern.
Dann sagte sie: »Könnt ihr denn nicht die Zeit abwarten? Ihr werdet mich sowieso bald los.«
»Niemand will dich loswerden, Barbara«, erwiderte meine Mutter, »das wird allmählich zur fixen Idee bei dir. Du willst anders leben als wir, etwas anderes sein, und du verletzt dabei dauernd unsere Gefühle - von mir will ich nicht reden.«
Meine Tante Gusti trug glatt gekämmtes Haar hinten einen Zopf, Dirndlbluse und bestickten Rock. Meine Mutter Verena trug an diesem Tag ein graues Kostüm mit vielen Glocken und Falten; sie gab acht, dieses Kleidungsstück nicht zu drücken. Nur meine Tante Barbara sah aus wie eine Schlampe. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten und die Hände farbfleckig.
»Könnt ihr mir sagen, was dem Alten die paar tausend Mark nutzen«, fragte sie. »Es ist nicht so, dass ihr mich aus Berlin weghaben wollt?«
Die Schwestern gaben keine, Antwort.
»Also ist es so?«
Meine Tante Gusti sagte: »Ich kann dich überhaupt nicht verstehen, Barbara.«
»Jedenfalls habe ich damit gerechnet, hierher zurück zu können, wenn ich nicht mehr dienstverpflichtet sein sollte, das heißt, wenn dieser Krieg einmal ein Ende hat. Ich brauche diese Räume für meine Arbeit. Das wisst ihr gut.«
Meine Mutter sagte: »Dann kauf doch das Haus.«
»Ich soll für etwas zahlen, das mir zusteht? Das ist nicht dein Ernst, Rena.«
»Aber ja, was heißt zusteht, dir steht der vierte Teil des Hauses zu, nicht das ganze Haus, falls Vater stirbt, woran ich gar nicht denken will. «Meine Tante Barbara schüttelte den Kopf. »Wer verkauft denn in diesen Zeiten ein Haus, wo das Geld kaum noch was wert ist?«
»Was meinst du mit diesen Zeiten?«
Alle schrien durcheinander, und später gaben sie sich zum Abschied nicht die Hand. Ich hielt meiner Tante Barbara die Rechte hin - sie sah mich prüfend oder misstrauisch an.
Das Realgymnasium hatte uns Jungen verschluckt. Wir stöhnten unter der Stofflast und unser soziales Bewusstsein unterschied uns von den Volksschülern. Unsere Schulwelt war von Doktoren und Oberlehrern, von Studienräten und Rektoren bevölkert. Unsere Schule nahm Kinder aus allen Stadtteilen auf, und so bildeten sich von Anfang an Gruppen, die sich kannten und zusammenhielten. In der Mitte der drei Bankreihen saßen wir, Schott, Jendokeit, Bruchner, Goll und ich. Der Begriff Ordinarius wurde durch den Begriff Klassenlehrer ersetzt, die lateinischen Bezeichnungen der deutschen Grammatik verschwanden und machten neuen Wörtern Platz, aus Substantiv wurde Dingwort, aus Artikel Geschlechtswort. Allerdings lernten wir eine neue Schriftsprache, die lateinische. Bisher hatten wir Sütterlin geschrieben, eine Schrift, die mein Vater meisterhaft beherrschte.
Unser Klassenlehrer hieß Doktor Wetter, Schott taufte ihn Unwetter, über seine Wange liefen zwei lange Durchzieher. Er unterrichtete Deutsch und Geschichte, ließ sich jedoch in seinen Freistunden, wenn wir Sport hatten, im Fechtanzug sehen und trainierte sich.
An Neusprachen gab Doktor Nitschmann Englisch und Herr Kossack Französisch. Wir hatten Latein, kein Griechisch, aber Mathematik, nämlich die Anfangsgründe der Algebra. In den unteren Klassen unterrichtete Rektor Karnow Mathematik und Physik. Zu Staatsfeiertagen erschien die Mehrzahl der Lehrer wie wir in Uniform, ausgenommen die Frauen.
Mit Kriegsanfang hatten wir unser Auto verkaufen müssen; alle Autos gingen in die Hände der Wehrmacht über, es wurde aber eine Taxe bezahlt. Einige Fahrzeuge blieben zugelassen, im Laufe der Zeit erhielten sie Holzgasöfen. Die mussten zeitig angefeuert werden, sollten sie zur gewünschten Zeit funktionieren.
Hin und wieder flogen einzelne britische Flugzeuge über Berlin, es fielen auch Bomben. Wir pilgerten zu den Ruinen der Häuser, die getroffen worden waren. Bei den Luftschutzübungen erfuhren wir, welche Typen von Bomben mit welchen Maßnahmen wirksam bekämpft werden konnten; Stabbrandbomben mit Aufschlagzünder, mit verzögertem Aufschlagzünder gab es, mit mehreren Sprengsätzen, Sprengbomben, gegen die wenig zu machen war. Im Verlaufe des ersten Kriegsjahres waren die Böden der Häuser entrümpelt und die Holzverschläge beseitigt worden, sodass die Böden leicht zu übersehen waren. Die Keller wurden zu Luftschutzunterkünften umgerüstet; es geschah eigentlich gar nichts, nur wurden eiserne Türen eingesetzt. Man durchbrach die Kellerräume von Haus zu Haus, um Fluchtwege zu schaffen. Die Luftschutzhelfer und ihr Chef, der Luftschutzwart, besaßen Helme und eine Feuerspritze, Eimer und Löschsand, es gab Erste-Hilfe-Ausbildungen und Kästen mit Verbandszeug. In die Keller stellten wir alte Stühle, Sessel oder Sofas, Tische. Ernst nahm, keiner diese Maßnahmen. Von den Bunkern in Berlin schoss die Flak, am nächtlichen Himmel kreuzten sich die Lichtbündel der Scheinwerfer, suchten feindliche Kampfflugzeuge zu erfassen. Manchmal setzten die Flieger Leuchtkugeln, Weihnachtsbäume, die die Dächer gespenstisch beleuchteten, aber das alles war weniger Krieg als Kriegsspiel. Aus den besetzten Ländern floss ein Strom von Gütern und Lebensmitteln. Textilien konnten begrenzt auf Punktkarten bezogen werden. Natürlich entstand auch sogleich ein kleiner Markt, der schwarze Markt mit Waren zu Überpreisen.
An den Häuserwänden erschien eine dunkle Gestalt, der Schatten eines Mannes in Schlapphut und Mantel, Feind hört mit, die volkstümliche Propaganda lief auf Hochtouren, jetzt wird eisern gespart - später punktfrei Staat gemacht; Anton kommt in seinen Bau, da entdeckt er Kohlenklau...
Noch immer war der Krieg ein mehr heiteres als unerträgliches Ereignis, und die Verluste an Menschen waren gering. Wen