Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
in die Aula marschierten, Fahnen vor uns hertragend, mit kurzen, dumpfen Marschtritten; endlich umschlang das einigende Band militärischer Disziplin auch uns. Wir fühlten den Flügelschlag der Geschichte, die Berührung mit dem Fahnentuch verlieh uns übermenschliche Kräfte. Einer heiligen Sache dienten wir, einer Sache ohne Ausdruck, ohne Begriff.
Hinter dem Redner hing eine Karte, sie zeigte Europa und Asien, eine riesige zusammenhängende Landmasse, von der wir schon eine Vorstellung besaßen. Wir unterschieden Völker, Staaten und Kontinente, wussten, was wo produziert wurde, kannten die ethnische Zusammensetzung, eingesprengte Reste germanischer Herrenvölker, die ihre bleibenden Spuren hinterlassen haben, von der Krim bis Indien, der Indoarier, der Lichtsucher, unterschieden vom Slawen oder Semiten, der durch dunkle, abscheuliche Triebe beherrscht wird. Meine Mutter Verena hatte es erlebt bei Max Hirsch; nun bestätigt durch Autoritäten, wahr die Beobachtung also, unbestreitbar wahr.
Wetter hielt eine Ansprache. Seit einigen Tagen tobte ein neuer Kampf, der im Osten, dem uralten germanischen Lebensraum, einst den Slawen abgetrotzt; jetzt trat die germanische Rasse ein weiteres Mal zum Kampf um den deutschen Osten an, um das heilige Gut des Reiches, um das die Ordensheere ruhmvoll gekämpft unter Heinrich von Jungingen, ihrem Hochmeister. Schmählich, nach Slawensitte, war der Vertrag von bolschewistischen Untermenschen gebrochen worden. Der Führer war jedoch dem Schlag zuvorgekommen, und - Wetter ging zu sachlichen Darlegungen über - der Zeigestock des Lehrers fuhr über die Karte. Dort standen deutsche Panzer, deutsche Soldaten trieben die Feinde zu paaren.
Die Bühne wurde verdunkelt, wir blieben mit dem Rücken zur Leinwand stehen, wir sahen also nichts von dem Film, der dort gezeigt wurde, aber wir kannten die Bilder ohnehin, die Reihen anstürmender Bolschewisten, die vor die deutschen Maschinengewehre gejagt wurden, angetrieben vom Kommissar, der keinen Pardon kannte. Zu dumpfer Musik glitt das Auge der Kamera über die getöteten Menschen, ein Anblick, uns längst vertraut, keiner von uns zuckte mit einer Wimper. Das Licht ging an, und Wetter schloss seine Rede mit Zuversicht. Der Endsieg stand nahe bevor, war der bolschewistische Feind erst niedergerungen, so mussten die Feinde im Westen in die Knie gehen. Und ganz besonders kam es auf die deutsche Jugend an, hier, heute, in diesem Schicksalskampf der Deutschen.
Der Fanfarenzug des Gebietes blies erregende Signale. Die flachen Trommeln rasselten, wir zogen aus der Aula.
Es war der letzte Tag, den ich mit meinem Vater verbrachte, er trug schon Feldgrau.
»Papa, wo kommst du hin?«
Ich wusste, dass er seinen Einsatzraum nicht kannte, und wenn er ihn gekannt hätte, würde er ihn uns nicht gesagt haben.
»Nicht an die Front«, erklärte er, »nach Polen, ins Hinterland.«
Seine Dienststelle brauchte ihn, er war ein wichtiger Techniker für das Nachrichtenwesen.
»Vielleicht werde ich euch nachholen«, versprach er, »würdest du gern für immer in Polen leben?« Da er sah, dass ich ihm nicht folgen konnte, erläuterte er: »Es scheint so zu kommen, dass wir diesen Raum besiedeln werden, germanisieren.« Ich spürte Unsicherheit in seiner Stimme, erkannte, dass er sich noch sträubte, als Tatsache anzunehmen, was er mitteilte. »Germanisieren - wir würden selbstverständlich Vorrechte eingeräumt bekommen.« Er schien zu zweifeln und lächelte verlegen.
Es war ein freundlicher Tag, wir spazierten durch den Bürgerpark. Es waren nur wenige Leute außer uns unterwegs. Die mächtigen alten Bäume hatten etwas Beruhigendes, Dauerhaftes. Unter einer Brücke sprang das Wasser der Panke über grün bewachsene Steine. Ich dachte an Wendisch-Rietz, an den alten Stadel, dachte an das Haus in der Wilhelmshagener Straße, das verkauft werden sollte, und hatte Sehnsucht nach Frieden, weil wir alle wegen dieses Krieges getrennt wurden.
»Ich will nicht nach Polen.«
Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Es war nur so gefragt, hat keine Bedeutung. Ich denke auch nicht daran, nach Polen zu ziehen, ich kann ja nicht mal Polnisch.«
»Was wirst du dort machen?«
»Strippen ziehen«, sagte er verächtlich. »Oder andere welche ziehen lassen, einen Wählersaal einrichten, was weiß ich. Wer weiß denn schon was?«
Ich hörte Ärger, Zorn und Hilflosigkeit in seinen Worten mitschwingen und antwortete mit den Sätzen, die ich in der Schule gelernt hatte, vom nötigen Schicksalskampf der Deutschen, vom Volk ohne Raum.
»Wir gehen jetzt auseinander, mein Sohn. Wer weiß, ob und wann wir uns wiedersehen. Leben gibt es nur einmal, und dass dieses Leben nichts wert sein soll, gemessen an anderen Werten wie Volk und Raum und was sonst noch, ist ein komplizierter Gedankengang«, er zögerte, fand eine Formulierung und schloss, »ein zweckmäßiger Gedankengang.«
Ich spürte, dass er noch mehr sagen wollte, wartete, dass er weitersprechen würde. »In vier Jahren wirst du eingesegnet, und ich hoffe, dass wir dann alle wieder beisammen sind.«
»Du bist ja kaum noch zu Hause gewesen.«
Er wiegte den Kopf. »Du hast natürlich gespürt, dass deine Mutter und ich in manchen Fragen nicht einer Meinung sind. Das muss und wird sich jedoch jetzt ändern.«
In letzter Zeit ging er kaum aus, er verschanzte sich in seinem Zimmer hinter dem Schreibtisch, beschäftigte sich intensiver als früher mit seinen Büchern, Herbarien und Sternenkarten. Unvermutet hatte er begonnen, Russisch zu lernen, er gab viel Geld für Bücher aus. Englisch für den Handelskaufmann, französische Konversation. Manchmal, wenn er nicht zu Hause war, sah ich mich auf seinem Schreibtisch um, und mich bestürzte, wie fern mir der Mann war, der mit uns lebte, uns ernährte und versorgte, der mein Vater war. Damals sah ich, dass er allein war und es sein wollte.
»Wenn du weg bist, wo sollen wir Felix einschulen?«
Er zuckte die Schultern, »Das müsst ihr allein entscheiden.
Ich glaube, du bist der Einzige, dem noch an einem Familienleben liegt, mein Sohn.«
Er hatte mich beobachtet; hieß das, er hatte sich Gedanken über mich gemacht?
»Kann ich dein Mikroskop haben, wenn du weg bist, Papa?«
Er nickte.
»Du wirst auch nicht mehr lange in Berlin bleiben. Die Schulen sollen aus der Stadt heraus, wegen der Luftangriffe.«
Durch die zunehmenden Luftangriffe fielen beinahe in jeder, Woche mehrere Stunden aus.
»Man wird euch irgendwohin schicken«, sagte er, »du musst mit, es hilft nichts.«
»Und Mama und Felix?«
»Sie können auch nicht hierbleiben. Mein Vater wird sie aufnehmen, falls es nötig werden sollte.«
Der alte Stadel hatte wieder geheiratet, er ließ sich kaum noch bei uns blicken. Ob er in Wendisch-Rietz oder woanders lebte, wusste ich nicht.
»Dein Großvater ist ein vitaler Mann«, erklärte mein Vater lächelnd, »weiß der Himmel, woher er die Kraft nimmt. Aber helfen wird er euch schon.«
»Mir doch nicht.«
Keiner würde mehr leicht zu erreichen sein. Die Familie zerstreute sich.
»Wenn ich wenigstens mit Felix zusammenbleiben könnte.«
»Das wird nicht gehen.«
Wir verließen unseren Platz an der Brücke und gingen weiter in den Park hinein. Dort lag das Schloss. Es sah sehr schön aus; zum ersten Mal fiel es mir auf.
»Wohnt eigentlich noch einer drin?«
Mein Vater wusste es nicht.
»Der Park hat viel gelitten«, sagte meine Mutter Jahre später. »Aber er ist noch heute sehr, schön, dort ist die Brücke; aber ich glaube natürlich kein Wort von dem, was ihr hier angeblich gesprochen habt. Es war vielmehr so, dass dein Vater nicht den leisesten Zweifel hinsichtlich der Mission im Osten hegte. Wir wussten damals nicht, was wir heute wissen. Und es war tatsächlich die Rede davon, uns in Kielce, oder war es Radomsk, anzusiedeln. So rosig war unsere Lage nicht.