Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

Jakob Ponte - Helmut H. Schulz


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hießen Frau von Schramm mit Sohn Ehrenfried von Schramm. Dies veranlasste Großmutter vielleicht zur Nachsicht und brachte sie auf den Gedanken, für ihre Tochter eine Art Standesbeziehung zum Adel herzustellen. Sie erklärte also der Mieterin, dass ihre Tochter, meine Mama, just durch Heirat eine Gräfin Oe geworden sei, indessen nahm die neue Mieterin diese Nachricht nur gleichgültig auf, als habe es damit nicht viel auf sich. In meiner Erinnerung ist sie eine unauffällige mütterliche Frau, eine Kriegerwitwe und ohne alle Mittel zumal; sie sprach langsam und in einem uns fremden Dialekt und war keineswegs zu beneiden. So kam es denn, dass die beiden Schramms vorläufig neben den Kammern im Obergeschoss des Knochenhauerinnungshauses erbärmlich genug untergebracht wurden. Der Knabe Ehrenfried war ein stattlicher Bengel, gegen den ich wie ein Zwerg wirkte. Sachen hatten die beiden nicht mitnehmen können, aber ein landwirtschaftliches Gut zurückgelassen; ihre Koffer waren mitsamt dem Schiff untergegangen, das sie mit vielen anderen aus dem Kessel Ostpreußens hatte herausbringen sollen. Es war torpediert worden und die Mehrzahl der Passagiere ertrank oder erfror im eiskalten Wasser, aber die Schramms konnten aufgefischt und gerettet werden. Diese Schiffstragödie liefert bis heute Vorlagen für Filme und Dokumentationen mit mehr oder minder verlogenen Kommentaren, als seien die Opfer an ihrem Schicksal schuld. Die Schramm durfte nunmehr Großmutters Küche und unser Geschirr benutzen, bekam Holz und Briketts, um das kleine Zimmer zu heizen, in dem die beiden hausten. Für uns junge Menschen brach eine fröhliche, leider aber kurze Zeit an, die schönste meiner Kindheit. Wasser für Tee summte im Kessel auf den Ofen in meiner Kammer, ich betätigte mich als Wirt der uns zugeflogenen Gäste. Helene bereitete ein Getränk aus Früchten für uns, und wir sahen von meinem Fenster aus über die verschneiten, vom Kältedunst überlagerten Dächer. Wenn einer die Tür öffnete, zog der Wind eisig durch den Raum, denn es war ein harter aber schöner Winter.

      Meine kindlichen Vorstellungen sollten bald erfüllt werden, falls ich den Weltuntergang und die Auferstehung erwartet haben sollte. In den Wochen des letzten Kriegsjahres fiel bei ruhigem Wetter fast täglich Schnee. Unser Haus wirkte geisterhaft dunkel und leer, nein, es war leer.

      Mama weilte in Weimar; wochenlang hörten wir nichts von ihr; nur Großvater erschien regelmäßig, um die Wäsche zu wechseln und uns zum Widerstand anzuhalten, sollten die Feinde, Bolschewisten und das Weltjudentum zumal in unser Städtchen eindringen, um uns zu vernichten. Er war zuversichtlich, was unseren Sieg anging und streng mit den Feinden. Täglich könne der Führer den Einsatz der neuen vernichtenden Waffen befehlen; in diesem Glauben bestärkt, fuhr er wieder zum Wachdienst. Indessen hatten wir von der Schramm gehört, wie die Russen in den Städten und Dörfern Ostpreußens gehaust hatten und ich fühlte die Ungewissheit vor dem kommenden in jedem Winkel des Knochenhauerinnungshauses nisten. Um nicht missverstanden zu werden; nicht dass ich Angst hatte, es war eher eine neue Art Spannung, Beklommenheit und Neugier, was mich in Aufregung hielt, aber die Angst der anderen, Großmutter vielleicht ausgenommen, die niemals und vor niemandem Furcht hatte, war sicherlich real. Großvater fürchtete sich vor der Zukunft, mit Recht, wie sich herausstellte und meine Großmutter bereitete sich auf ihre Weise auf den Untergang vor. Zweimal wöchentlich kam mein Wahlvater, den ebenfalls nichts anfocht, der die Ruhe selbst blieb, um uns in all diesen Schicksalsfragen zu beraten. Sollten wir aufs Land ins Bayrische hinein flüchten, wo Großmutter Angehörige hatte? Würden eher die Amerikaner hier sein, als die Russen oder die Engländer, und wer uns noch alles das Fürchten lehren und den Frieden seiner Art bringen wollte; wer war vorzuziehen von diesen unseren Feinden und Räubern und Mördern? Kamen sie alle gleichzeitig, um uns kalt zu machen? Manchmal glitten Großmutters forschende Blicke über mich, aber die Hoffnung auf meine Sehergabe konnte ich eben jetzt nicht erfüllen, und nicht vorhersagen, was geschehen werde …

      »Uns bleibt nur die Hoffnung auf den Herrn«, sprach mein Wahlvater, der für sich am wenigstens zu fürchten schien. In der Tat mochte ihn sein geistlicher Rock vor den zu erwartenden Übergriffen schützen, so dachte ich wohl. Großmutter sagte, es erscheine ihr ziemlich überflüssig, wer zuerst hier sei; die Sieger würden bekanntlich alles nehmen. »Sie sind und bleiben sich alle gleich, so war es immer, dagegen ist nichts zu machen.« Er nickte bestätigend und ich folgerte, man würde uns das Haus über dem Kopf anstecken und die Kehlen durchschneiden oder umgekehrt. Ja, ich fragte mich ernsthaft, bei wem von uns sie damit anfangen würden. Helene erblasste und brach in Tränen aus; in Großmutter setzte sich das ihr eigene männliche Wesen durch, als sie ihre Enkelin anherrschte: »Heul nicht! Dir wird nichts geschehen. Was hättest du auch zu verlieren?«

      Belustigt griff Meister Fabian ein. »Na, na, liebe Frau Großtante, und die Keuschheit? Wir alle sollten in den kommenden schweren Stunden einander lieben und achten und jedermann sei jedem eine Hilfe.« Spöttisch schielte ihn Großmutter an. »Ach, sollten wir? Na, ich bin vergeblich meiner beiden Töchter Hüterin gewesen, um die Sache mit den brüderlichen Hütern abzuwandeln. Weshalb meine beiden Kinder immer nur von mir wegwollten; haben Sie dafür eine Erklärung? Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Neffe, bevor Ihr Reich der Liebe anbricht, müssten einige Leute in die rostigen Eisenkäfige gesetzt werden, die seit dem Mittelalter an dem Turm da baumeln.«

      »Und an wen denken Sie«, fragte er neckend. Sie wehrte ab, wolle sich hüten und Namen nennen, sah nachdenklich Helene an, dann schüttelte sie bedauernd den Kopf und seufzte: »Am Ende ist es gleich, an wen sie ihre Dingsda, Unschuld verliert. Sagen Sie mal, ist eine Vergewaltigung eine Sünde, die wir Weiber zu beichten haben? Oder zählt sie zu den Lässlichen?« Schweigend hob er die Schultern ... »Wie nun, soll ich dich aufs Dorf bringen, bis auf Weiteres?« wendete sie sich mitfühlend an meine kleine Schwester Helene. Da sich alle Sorge plötzlich um sie drehte, begann ich darüber nachzudenken, weshalb sie gefährdeter sein könnte als wir, und worin dieses kostbare Gut bestehe, um dessentwillen sie in Sicherheit gebracht werden sollte. Aber diese beiden Frauen, die Alte und die Junge, waren sich nähergekommen, als ich es jemals für möglich gehalten hatte, wie ich vorwegnehmend bemerke.

      »Ich bleibe, wo du bist«, sprach Helene fest; es war das erste deutliche Zeichen weiblicher Solidarität und der Beginn meines Vertrauens in die praktische Vernunft der Weiber, von der wir Männer ausgeschlossen bleiben. Dies sei klug, schloss Großmutter befriedigt. »Wenn nicht ich, wer soll dann mit diesem Pack fertig werden?«

      »Aha! Sehen Sie wohl«, sagte mein Wahlvater lachend, »hättet ihr der Liebe nicht, und sie hört ja auch nimmer auf, selbst wenn sie eigene Wege geht. Nein, bleibt alle beide, auf der Landstraße ist es sicher ebenso gefährlich wie hier. Eher fürchte ich die Gefahr, die von Ihrem Mann ausgeht, liebe Großtante. Er spielt den Krieger, dürfte aber dieser Rolle wohl nicht gewachsen sein und Unheil über uns heraufbeschwören.«

      »Das fürchte ich auch«, bestätigte Großmutter. »Nun lassen wir es gehen, wie es will; so haben wir es doch wohl immer gemacht, wie?«

      Das Reich, der Führer, die Nazis, das Deutsche Volk, wie dieses Gebilde auch immer je nach Standpunkt bezeichnet wird, unternahm eine mächtige Anstrengung, um sich seiner Feinde zu erwehren, wie in den Zeitungen zu lesen stand. Viel davon war bei uns nicht zu spüren. Ohne dass mich Visionen heimsuchten, sah ich dieses Mal dem realen Überlebenskampf ziemlich gleichgültig zu, erlebte zum Beispiel wie Großvater die Umgestaltung des Adolf-Hitler-Platzes mit seinem gotischen Rathaus, dem historischen Brunnen, dem falschen Roland, dem Hotel Zum Löwen, meiner mutmaßlichen Zeugungsstätte, vornahm, und das Café am Markt zu seinem militärischen Hauptquartier machte.

      Er ließ die inzwischen beschäftigungslos gewordenen Fremdarbeiter aus dem von ihm bewachten Lager nach Müllhaeusen verfrachten und in die Kellerräume des Rathauses sperren, von wo sie zum Bau der Barrikaden herausgerufen wurden; er ließ sie das Kopfsteinpflaster aufreißen und mit allerlei Gerümpel zu einer Festungsmauer aufschichten, den Markt nach allen Seiten hin uneinnehmbar verbarrikadierend. Tag und Nacht war sein Bauwerk von den Heimatkriegern besetzt und bewacht, um die militärische Lage doch noch zu unseren Gunsten zu wenden. Von meinem Fenster aus konnte ich von oben herab hinter diese Barrikade blicken; was ich sah, machte einen tiefen und sonderbaren Eindruck auf mich. Es war kein ernsthafter Krieg zu sehen; ein paar alte Herren saßen in Hut und Mantel auf mitgebrachten Schemeln oder Klappstühlen, wussten nicht wohin mit den ihnen ungewohnten Schießgewehren und befummelten ihre Pfeifen, rückten die drückenden Koppel über ihren schlaffen Bäuchen zurecht und erhoben sich mühsam, wenn Großvater sie antreten


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