Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf.. Meike Mittmeyer-Riehl
noch, dass wenig später die Rettungsassistenten da waren. Dennis schilderte ihnen dankenswerter Weise die Symptome, ich weiß nur noch, dass ich kopfschüttelnd sagte: „Ich weiß, das deutet alles auf einen Schlaganfall hin. Aber das kann doch nicht sein?!“
Aus Laien-Sicht betrachtet konnte das eigentlich wirklich nicht sein. Ein Schlaganfall, ein in der Regel durch ein Blutgerinnsel ausgelöster Infarkt im Gehirn, trifft doch vor allem Ältere. Dachte ich damals; und das denken die meisten Menschen wahrscheinlich immer noch. Rauchen, schlechte Ernährung, Diabetes, hoher Blutdruck, Bewegungsmangel, all das begünstigt einen Schlaganfall. Alles Risikofaktoren, die auf mich zu null Prozent zutrafen. Ich war sogar das genaue Gegenteil: 24 Jahre jung, sehr schlank und sportlich, dazu eine überzeugte, ich würde fast sagen militante, Nichtraucherin.
Auch die Rettungsassistenten schienen einen Moment darüber nachzudenken, als sie mich da sitzen sahen. Der eine von ihnen, ein kräftiger Kerl mit einem runden, freundlichen Gesicht, sagte aber dann: „Das passt mir hier alles nicht. Wir fahren ins Krankenhaus.“ Widerwillig stieg ich mit ihnen die Treppe runter und ins Auto ein, ich brauchte keine Hilfe. Die Lähmung war komplett verschwunden, so als wäre sie nie dagewesen. „Wo fahrt ihr sie hin?“, fragte Dennis. „Nach Darmstadt“, sagte der kräftige Rettungsassistent, „Stroke Unit.“ (Eine Stroke Unit ist eine Spezialstation für Schlaganfallpatienten)
*
In dem Moment, da die Tür des Rettungswagens zuschlug, war mein bisheriges Leben vorbei. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Manchmal will ich es heute noch nicht glauben. Nach diesem ersten schönen Frühlingstag im März 2012 sollte nichts mehr so sein, wie es war.
Davon ahnte ich nichts, als ich dort auf der Krankenliege im Rettungswagen lag, entgegen der Fahrtrichtung. Die Sirene hörte ich kaum, auch vom Blaulicht sah ich nichts. Es war ja noch hell. Ich fror, zitterte am ganzen Leib. Schließlich war ich noch völlig nass in meine spärlichen Klamotten gestiegen. Ich fuhr diese Strecke in die Stadt jeden Tag zur Arbeit, aber so schnell hatte ich sie noch nie bewältigt. Der kräftige Sanitäter saß neben mir und schaute mich aufmerksam an, ohne zu lächeln. Er schien jeden Moment bereit, schnell einzugreifen, sollte ich irgendeine eigenartige Reaktion zeigen. Aber was für eine Reaktion sollte ich schon zeigen? Es ging mir wieder gut und mir fehlte nichts. Irgendwie schöpfte ich Zuversicht aus seinem runden, freundlichen Gesicht.
Ich war mir sicher, dass all das nur ein schrecklicher Irrtum sein konnte; dass ich nur einen kleinen Kreislaufkollaps hatte, nichts Schlimmes. Vielleicht einen eingeklemmten Nerv, darum die Lähmung. Von so etwas hatte ich schon mal irgendwo gelesen. Ich war mir sicher, dass ich am Abend wieder nach Hause könnte, dass ich meine Wäsche hereinholen und den Zimmerbrunnen ausschalten könnte, wie geplant. Ja, so würde es ganz bestimmt kommen.
Nach einem schweren Schicksalsschlag wie dem Verlust eines geliebten Menschen oder auch einer schweren Erkrankung durchlebt man in der Regel verschiedene Phasen. Viele der heute üblichen Modelle der Krisen- oder Trauerbewältigung gehen, in abgewandelter Form, zurück auf die US-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004). Ihre ursprünglichen „fünf Phasen des Sterbens“ beschreiben die wesentlichen fünf Stadien, die ein Mensch durchläuft, wenn er weiß, dass er bald sterben muss. Ihre Erkenntnisse beruhen auf Interviews mit über 200 todkranken, sterbenden Patienten3. Nach Kübler-Ross setzen sich diese fünf Phasen wie folgt zusammen:
1 Das Nicht-wahrhaben-Wollen: Man streitet ab, will die Diagnose nicht wahrhaben, redet sich ein, dass alles nur ein großer Irrtum sein kann.
2 Zorn: Man wird wütend und neidisch auf alle, denen es vermeintlich besser geht und die weiterleben dürfen.
3 Das Verhandeln: Man versucht, mit sich selbst oder einer höheren Macht, vielleicht Gott, einen Pakt zu schließen: Wenn ich dies oder jenes mache, wird doch bestimmt wieder alles gut!
4 Die Depression: Wut und Zorn weichen jetzt dem Gefühl, dass alles aussichtlos ist.
5 Die Akzeptanz: Der Kampf ist vorbei, man akzeptiert die Situation und beginnt, auf das Gute zurückzublicken, das einem im Leben wiederfahren ist.
So oder zumindest so ähnlich lassen sich auch die Stadien beschreiben, die Menschen nach einem Schicksalsschlag durchleben. All das ist nicht in Stein gemeißelt und kann sich bei jedem etwas anders darstellen, manche Phasen gehen ineinander über, andere bleiben ganz aus, oder die Reihenfolge ist eine andere.
Auch für meine persönliche Aufarbeitung finde ich die Einteilung in Phasen im Nachhinein sehr wichtig, um mir selbst mein Verhalten und meine Gefühle von damals besser erklären zu können und um zu ergründen, weshalb mich dieser Einschlag derartig aus der Bahn geworfen hat, dass ich bis heute nicht damit zurechtkomme. Auch ich halte mich in meinem rein subjektiven Bericht nicht starr an die klassischen fünf Phasen, sondern habe meine eigenen definiert – und das natürlich auch erst jetzt, mit vier Jahren Abstand.
Nach so einem Schicksalsschlag ist das alte Leben vorbei, unweigerlich, daran lässt sich nicht rütteln; das neue Leben aber ist noch lange, lange nicht in Sicht. Die Phasen, die ich im Folgenden beschreibe, stehen für eine Art Mittelding, ein „Leben zwischen den Leben“, könnte man sagen. Wie eine Brücke zwischen zwei Ufern. Diese Brücke führt über tosende Flüsse, schwindelerregende Schluchten, durch unendliche Wüsten und durch wütende Gewitterstürme. Aber das werdet ihr im Laufe meines Berichts noch sehen.
Als ich im Rettungswagen lag und mir einredete, dass schon alles gut sein würde, wusste ich natürlich noch nicht, dass ich gerade in „meiner“ Phase eins angekommen war. Sie war die kürzeste von allen, sie dauerte nur wenige Stunden. Ich nenne sie: das Abstreiten.
Kapitel 2: Die Diagnose
„Manchmal sieht unser Schicksal aus wie ein Fruchtbaum im Winter. Wer sollte bei dem traurigen Ansehn desselben wohl denken, dass diese starren Äste, diese zackigen Zweige im nächsten Frühjahr wieder grünen, blühen, sodann Früchte tragen könnten?“
J.W. von Goethe – „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ 4
Es musste alles ein großer Irrtum sein. An diesem Gedanken klammerte ich mich weiter verkrampft fest, während ich im Krankenhaus von Untersuchung zu Untersuchung geschoben wurde. Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Doppler-Untersuchung (eine spezielle Ultraschall-Untersuchung der Halsgefäße): Ich ließ alles relativ uninteressiert über mich ergehen, weil ich noch immer die große Zuversicht in mir trug, dass ich kerngesund war.
Der nette Krankenpfleger, der mich von Untersuchung zu Untersuchung brachte, sagte irgendwann zu mir: „Sie sind so ruhig und gelassen, das sind wirklich die wenigsten in Ihrer Lage. Bewundernswert.“ Ich stutzte. Das ist deshalb ein so komischer Satz, weil ich von Natur aus eigentlich alles andere als ruhig und gelassen bin, leider. Ich bin notorisch überpünktlich und neige zu innerer Unruhe, ich laufe, lese, schreibe, spreche und denke sehr schnell, und mir reißt schnell der Geduldsfaden, wenn jemand mit diesem Tempo nicht mithalten kann. Darum gab mir der Satz des Krankenpflegers schon ziemlich zu denken. Warum nur war ich so ruhig? Plötzlich machte ich mir doch ganz schön Sorgen.
Als die Untersuchungen abgeschlossen waren und das Warten auf die Ergebnisse begann, lächelte der nette Krankenpfleger besonders breit und sagte: „Da draußen werden Sie schon sehnlichst erwartet.“ „Meine Familie?“, fragte ich glücklich. Und im Flur warteten tatsächlich meine Eltern und Dennis. Sie lächelten alle drei, niemand weinte. „Wie geht’s?“, fragte meine Mutter fröhlich. Es fühlte sich einen Moment lang so an, als hätte ich mir beim Tennis einfach nur den Fuß verstaucht. „Gut“, gab ich ebenso fröhlich zurück. Dann wurde ich wieder weggeschoben und musste einsam auf die Ergebnisse warten. Immerhin gab man mir ein Glas Wasser zu trinken.
Nach einer halben Stunde, oder einer, oder auch zwei, ich hatte das Zeitgefühl verloren, jedenfalls war es draußen mittlerweile schon dunkel, kam eine junge Ärztin. Ich schnappte von ihren Erklärungen nur Satzfetzen auf – „Durchblutungsstörung im Hirn“ – „spricht für einen Schlaganfall“ – „Riss in der Halsschlagader“. Ich starrte sie an, ich glaube,