Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf.. Meike Mittmeyer-Riehl

Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf. - Meike Mittmeyer-Riehl


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fürchterliche Diagnose über mich schwappen wie eine Welle in der Brandung. Das war der Beginn von Phase zwei. Ich nenne sie: die Schockstarre.

      Ich weiß heute nicht mehr genau, wie es dann weiterging. Ich glaube, ich wurde direkt in mein Zimmer geschoben, meine Eltern und Dennis kamen noch kurz mit rein, brachten mir Schlafanzug und Zahnbürste. Dann mussten sie gehen, es war ja schon nach zehn. Ich durfte nur einmal kurz aufstehen, um aufs Klo zu gehen, Zähneputzen musste ich im Bett.

      Als ich eine Weile im Dunkeln in dem Zimmer gelegen hatte, durfte ich vom Stationstelefon des netten Krankenpflegers aus meinen Bruder anrufen. Meine Eltern hatten mich auch gebeten, das zu tun, da sie ihm nur in aller Kürze berichtet hatten, was passiert war. Er sollte hören, dass es mir gut ging. Rückblickend war dieser Moment einer der furchtbarsten überhaupt in meinem Leben. Und es gab von jetzt an so einige furchtbare Momente.

      Ich wählte die Nummer meines Bruders und hörte noch, wie er abhob und seinen Namen sagte. Aber dann konnte er zehn Minuten gar nichts mehr sagen, weil er nur weinte. „Es geht mir gut“, rief ich beschwichtigend in den Hörer, „es ist alles gut!“ Ich redete und redete, vergoss nicht eine einzige Träne. Plötzlich fühlte ich mich wie der Arzt, der seinem verzweifelten Patienten Trost und Zuversicht spenden muss. Dabei war ich es, die verkabelt im Krankenbett lag.

      Dazu muss man wissen, dass mein Bruder, fünfeinhalb Jahre älter als ich, immer schon ein großer Bruder war, wie er im Buche steht. Fünfeinhalb Jahre, das ist im frühen Kindesalter ein enormer Altersunterschied. Aber der hat im Alltag nie zu Problemen geführt, im Gegenteil.

      Ich kann mir keine schönere Kindheit vorstellen als die, die ich hatte. Unser Elternhaus steht direkt an einem kleinen Fluss, von der Terrasse aus hat man einen herrlichen Blick über weite Felder bis hinten zum Wald. Als Kinder haben mein Bruder und ich viel Zeit am Fluss verbracht, haben Stöcke gesammelt, Staudämme gebaut und manchmal sogar Birnen-große, noch lebende Flussmuscheln aus dem Wasser geholt (und dann aus Mitleid natürlich wieder zurückgelegt).

      In sehr kalten Wintern, wenn der Fluss komplett zugefroren war, schlitterten wir über die hubbelige Eisfläche und bestaunten die kuriosen Eisformationen, die sich an dem kleinen Wasserfall schräg gegenüber von unserem Zuhause am Ufer gebildet hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Kindheit in einer großen Stadt aussieht, und ehrlich gesagt habe ich sogar ein bisschen Mitleid mit Stadtkindern. Die wunderschönen Erlebnisse in der Natur möchte ich jedenfalls nicht missen.

      Mein Bruder hat mich schon immer beschützt, hat sich wie eine große, nicht unüberwindbare Mauer vor mich gestellt, wenn ich von anderen Kindern gehänselt wurde. Oft hört man, dass ältere Geschwister unheimlich eifersüchtig auf den Neuankömmling sind, der plötzlich all die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern einfordert. Zwischen uns gab es diese Probleme nie, wie mir meine Mutter immer wieder erzählt hat.

      Mein Bruder übernahm sehr früh für mich Verantwortung, passte auf mich auf, wenn unsere Mutter mal kurz aus dem Haus ging, beschützte mich vor Mitschülern, wenn ich draußen beim Spielen geärgert wurde, und war auch sonst immer für mich da. Jedenfalls dauert diese besondere Beziehung zwischen uns bis heute an, und auch wenn wir uns nicht mehr jeden Tag sehen, weiß ich, dass er sich ohne Zögern auch heute noch wie eine unüberwindbare Mauer vor mich stellen würde, wenn Unheil droht. Ich kenne naturgemäß kein Leben ohne meinen Bruder, und obwohl er die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens ohne mich verbracht hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass auch er sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen kann.

      Und ich weiß, dass ihn der Gedanke, mich an jenem ersten schönen Frühlingstag um ein Haar verloren zu haben, beinahe umgebracht haben muss. Ich redete also weiter auf ihn ein, versicherte ihm, dass es mir gut gehe, dass ja nichts passiert sei und dass ich ganz bestimmt wieder gesund würde. Meine Aufmunterungsversuche fruchteten zumindest ansatzweise.

      Nach unserem Telefonat lag ich in dem dunklen Zimmer und starrte gegen die weiße, geschlossene Tür, über der eine Uhr hing. Ich hatte Hunger, aber man gab mir nichts mehr zu Essen. Es gab nichts, das mich von meinem Hunger ablenkte, selbst die ganzen Messgeräte, an die ich angeschlossen war, standen außer Sichtweite am Kopfteil meines Bettes.

      Also dachte ich noch einmal über das Gespräch mit meinem Bruder nach und begriff plötzlich: Es geht hier nicht nur um mich. Welches Leid, welche Sorgen ich mit dieser blöden Aktion über meine ganze Familie gebracht haben musste, konnte und wollte ich mir in diesem Moment gar nicht vorstellen. Die bloße Ahnung davon kroch mir aber wie ein eisiges Schaudern den Rücken hinunter. Und ich hasste mich dafür, ihnen das angetan zu haben.

      Beim Versuch, schnell an etwas anders zu denken, an irgendetwas anderes, versuchte ich, die andere Patientin in meinem Zimmer zu sehen, die hinter mir lag. Ich konnte mich aber wegen der ganzen Kabel und Zugänge an meinem Körper kaum bewegen. Ich hörte nur ihr ungewöhnlich schnelles, röchelndes Atmen, das mich irgendwie beunruhigte. Auf Zurufe reagierte sie nicht. Erst später erfuhr ich, dass die alte Frau im Koma lag. Mir war zu jener Zeit eben noch nicht richtig bewusst, dass ich auf der Stroke Unit lag. Einer Station also, die für viele, die dort landen, die letzte in ihrem Leben ist.

      „Here am I floating round my tin can

      Far above the moon

      Planet earth is blue

       And there's nothing I can do

      David Bowie – „Space Oddity5

      Die Nacht war sehr unruhig. Jede Stunde kam jemand in mein Zimmer, um zu schauen, ob ich noch lebte. Man leuchtete mir in die Augen, maß Blutdruck. Dabei hätte irgendeines der Geräte, an die ich angeschlossen war, sicherlich angefangen zu piepsen, sobald mein Herz stehenbleibt. Aber wahrscheinlich ist das üblich auf der Schlaganfall-Station. Sicher ist sicher.

      Die unruhige, schlaflose Nacht bot mir also immerhin ein paar Gelegenheiten zum Nachdenken. Ich muss immer noch unter Schock gestanden haben, denn ich fühlte eigentlich gar nichts. Ganz sachlich, ich würde sagen, fast wissenschaftlich – ja, eigentlich so, wie ich auch an die Recherchen meiner Diplomarbeit zwei Jahre zuvor herangegangen war – analysierte ich die Geschehnisse des vergangenen Tages. Versuchte, mir einen Reim auf die schreckliche, aber für mich in diesem Moment völlig ungreifbare Diagnose zu machen.

      Ich rekapitulierte den Tag: Weil es der erste schöne Frühlingstag gewesen war, hatten Dennis und ich beschlossen, Tennis zu spielen. Ich war erst am Abend zuvor von einer Schulung für Volontäre (ich war seinerzeit Volontärin, also auszubildende Redakteurin bei unserer regionalen Tageszeitung) in Bonn zurückgekommen. Es war Dennis‘ Geburtstag, darum waren wir abends bei unserem Lieblingsitaliener essen gegangen und unser beider Lieblings-Fußballmannschat, Eintracht Frankfurt, hatte auch noch gewonnen. Es war ein perfekter Start ins Wochenende. An dem Samstag waren wir dann auf den Tennisplatz gefahren, mit den Rädern, wie immer. Ich spielte seit rund zwei Jahren, Dennis schon länger. Ich war nicht berauschend gut, hatte aber schon eine Begabung, denn ich lernte schnell. Wir hatten ganz normal angefangen zu spielen.

      Und irgendwann, bemerkte ich nun bei meinen nächtlichen Analysen, hatte ich ein Stechen im Hals gespürt. Ich weiß noch ganz genau, dass mich das eine Sekunde lang irritierte. Dazu kamen leichte Schmerzen im Hinterkopf. „Vielleicht brüte ich eine Erkältung aus“, dachte ich mir. Als dann auch noch etwas Benommenheit dazukam, war die Sache für mich klar. „Mir ist nicht so gut“, sagte ich zu Dennis, „lass uns aufhören.“ Vielleicht hatte ich mir bei der Schulung in Bonn etwas eingefangen. Oder es war der Wetterumschwung. Wir fuhren mit den Rädern zurück zu Dennis‘ Eltern.

      Als ich mir vor dem Haus die Schuhe auszog, fühlte ich mich komisch. So seltsam hatte ich mich bei einer anfliegenden Erkältung noch nie gefühlt, konstatierte ich rückblickend. Das Gefühl, nicht mehr so ganz im eigenen Körper drinzustecken, das ich bereits im ersten Kapitel beschrieben habe, nahm hier seinen Ursprung. Rückblickend weiß ich auch, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits Sprachschwierigkeiten hatte, obwohl Dennis da noch nichts auffiel.


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