Himmel über der Maremma. Ursula Tintelnot
und fühlte sich unverhofft ausgeschlossen.
Sie war von Beruf Tochter, und zwar die Tochter eines reichen, verwöhnenden Vaters und einer Mutter, die selten anwesend war. Sie besaß ein Selbstbewusstsein, das an Arroganz grenzte, und war es nicht gewohnt, sich ausgeschlossen zu fühlen. Theresa reichte ihr die Hand.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Dies ist ohne Zweifel eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, dachte Annabel.
Sie war groß, beinahe so groß wie Konstantin. Und wenn sie nicht gewusst hätte, dass Theresa seine Mutter war … sie hätte ebenso gut seine Geliebte sein können. Wilde Eifersucht überkam sie, und der überwältigende Wunsch, ihr ebenbürtig zu sein. Diese Frau musste über vierzig sein, sah aber gut zehn Jahre jünger aus.
Annabel hing sich an Konstantins Arm.
Theresa lächelte. Das Mädchen in seinem perfekt geschnittenen Kleid sah reizend aus. Auf Stöckelschuhen wirkte Annabel größer, als sie wirklich war.
Sie wird um ihn kämpfen, dachte Theresa.
Sie sah, wie sich Annabel, nach einem Blick auf sie, aufrichtete. Ihr Griff nach Konstantins Arm machte deutlich, zu wem er in Zukunft gehören sollte. Eine Kampfansage? Nun ja. Sie hatte schon viele Klagen von Schwiegermüttern über Schwiegertöchter gehört und umgekehrt.
Frederico kam die Treppe herunter. »Ich habe Hunger«, sagte er und betrachtete die Freundin seines Bruders anerkennend von oben bis unten. »Sehr schick, Rosa steht dir.«
»Danke.« Annabel kicherte und schmiegte sich an Konstantin.
»Frederico, sieh bitte nach deinem Vater, ich nehme an, dass er in der Bibliothek ist. Wir können dann essen.«
Madame erschien als Letzte. »Ich kann Amalia nicht finden«, sagte sie atemlos.
»Sie wird schon kommen, ich habe sie vor einer halben Stunde noch gesehen.« Maria ließ sich auf ihrem Stuhl nieder.
»Wir werden nicht auf sie warten. Alicia? Sie können auftragen.«
»Si, Signora.«
Alicia servierte eine kühle Gurkensuppe mit Crostini als Vorspeise.
»Ich habe Amalia auch noch nicht gesehen«, sagte Konstantin.
In diesem Moment tauchte Amalia aus der Dunkelheit auf.
Maria hob ihre Serviette an den Mund. Sie täuschte einen Hustenanfall vor. Dieses Kind. Sie hatte es geahnt. Amalia trug ein vom Waschen beinahe farblos gewordenes T-Shirt, das um ihre dünnen langen Schenkel schlabberte. Schuhe trug sie keine. Frederico brach in lautes Gelächter aus. Maximilian hob die Brauen. Er sah hilflos zu seiner Frau hinüber, als ob er auf ihre Reaktion wartete.
Annabel griff nach Konstantins Hand und flüsterte: »Oh Gott, was ist das?«
Er entzog ihr seine Hand, erhob sich, nahm Amalia in die Arme und wirbelte sie herum. »Hallo, kleiner Milou, ich habe dich vermisst.«
Amalie schlang ihre Arme um ihn.
Ich dich auch, Tintin, dachte Amalia.
Tintin und Milou, (Tim und Struppi), war der erste Comic, den Konstantin ihr im französischen Original geschenkt hatte. Seit dieser Zeit hatte sie ihn Tintin genannt, wenn sie ihm schrieb.
»Das ist Amalia, Annabel.«
Amalia übersah die ausgestreckte Hand, nickte nur. Sie setzte sich auf den freien Stuhl neben Theresa.
»Du bist zu spät, Amalia.« Theresa strich dem Mädchen über die kurzen, nach allen Richtungen abstehenden, unregelmäßig geschnittenen Locken. »Wenn wir das noch etwas nachschneiden, wird es sehr gut aussehen.« Sie lächelte.
»Alicia, bringen Sie Amalia ihre Suppe.«
Madame Durand hatte es die Sprache verschlagen. Amalias herrliche Locken waren verschwunden. Sie sah aus wie ein ungekämmter Lausbub.
Alicia verschwand grinsend in der Küche, um dort die Neuigkeit zu verkünden. »Amalia hat sich die Haare abgeschnitten, sie sieht aus wie ein zerrupftes Huhn.« Kitty fragte: »Ganz und gar?«
»Höchstens zehn Zentimeter lang.«
Frederico hörte endlich auf zu lachen.
»Warum spricht sie nicht?«, fragte Annabel in die Stille hinein.
»Weil sie nicht möchte«, hörte Theresa ihren Mann sagen.
Sie blickte ihn erstaunt an. Seine Stimme klang kühl und seine Auskunft so schroff, dass Annabel sich nicht traute, das Thema weiter zu verfolgen.
Frederico verkniff sich eine spöttische Bemerkung und klappte den Mund wieder zu.
Maxim hatte sich nur ein einziges Mal zu Amalias Sprachlosigkeit geäußert.
Als sie ins Haus kam, hatte er entschieden, nein, eher befohlen, sie in die Obhut der besten Ärzte, Therapeuten und Lehrer zu geben.
Ein Internat kam für ihn nicht in Frage. Er ließ sich regelmäßig über ihre Fortschritte informieren. Sein Verhältnis zu ihr konnte Theresa nicht einschätzen. Amalia zog es häufig in die Bibliothek, Maximilians bevorzugten Aufenthaltsort.
Manchmal hörte sie Maxim mit ihr sprechen. Die Kleine las leidenschaftlich gerne alles, was ihr in die Finger kam.
Auch Maxim las viel und gerne. Er beschäftigte sich allerdings vorwiegend mit Landwirtschaft, Schafzucht und seinem Lieblingsthema, der Herstellung von Käse. Ob das eine Zwölfjährige fesselte, bezweifelte Theresa, bis sie eines Tages Maxims Stimme hörte:
Durch die halb geöffnete Tür konnte sie Amalia und Maxim sehen. Beide beugten sich über ein dickes Buch. Sie hörte Bruchstücke dessen, was Maxim erklärte: »Stell dir vor, mehr als acht Millionen Liter Schafsmilch … der Pecorino fresco, den du so gerne isst … alles von den Schafen aus der Maremma.« Amalia schrieb etwas auf ihrem Tablet. Sie hielt es ihm hin. Er nickte, erhob sich und zog ein anderes Buch aus einem der Regale.
Theresa fragte sich, als sie leise ihren Horchposten verließ, ob er in Amalia seine Nachfolgerin sah. Wieder fragte sie sich, ob sie sein Kind war. Mit ihr hatte er die Geduld, die er bei seinem eigenen Sohn manchmal vermissen ließ. Frederico war ihm sehr ähnlich, aber er besaß nicht Maxims Ehrgeiz, nur sein ruheloses Temperament, ohne die Fähigkeit, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren. Frederico