Der verborgene Erbe. Billy Remie
Seltsamerweise erinnerte sie sich ausgerechnet in jenem Moment an ihre erste gemeinsame Nacht mit Raaks. Sie hatten sich heimlich im Mondschein getroffen, oben auf der Anhöhe im Wald, mit Blick über die Schwarzfelsburg. Es war kühl gewesen, aber Raaks hatte sie in Decken gehüllt, und sie mit seinem warmen Körper vor der Auskühlung bewahrt. Sie spürte noch seine zärtlichen Berührungen, seine sanften Küsse auf ihrem Hals, ihrem schmalen Kinn und ihren weichen Lippen, schmeckte noch seine Zunge, roch noch seinen Atem. Damals hätte sie nie für möglich gehalten, dass sie einmal gezwungen werden würde, seinen Vater zu heiraten; noch während sie das Kind seines Halbbruders im Leib trug.
Das Leben einer Frau unter dem Banner der Kirche war eine wahrlich große Bürde.
Rahff war nicht mehr derselbe, seit Cohens Verrat, stellte sie ängstlich fest. Eigentlich war Rahff nie durch und durch grausam gewesen. Gelegentlich kalt berechnend, aber nie derart unbeherrscht. Oder gar ein Mann, der eine Frau zwang, ihn zu heiraten. Das hatte er nie nötig gehabt.
Zeiten veränderten Menschen. Und zum Teil konnte sie Rahffs Wut und Verzweiflung sogar verstehen. Wie würde sie sich wohl fühlen, würde eines ihrer Kinder sich gegen sie stellen, um gegen sie anzukämpfen.
Rahffs Lieblingssohn war sein Feind geworden. Etwas Schlimmeres hätte ihm nicht passieren können. Und Sigha musste es nun ausbaden.
Wütend war sie deshalb nicht auf Cohen. Sie wünschte nur, sie wäre früher geflohen. Oder hätte die Möglichkeit, ihm eine Nachricht zu schicken …
Da kam ihr plötzlich eine Idee.
Eilig suchte sie sich Feder, Tinte und ein Stück Pergament zusammen. Sie schrieb hastig einen Brief, und pustete die Tinte trocken. Dann stand sie auf und eilte auf den Hof hinaus.
Zwar wurde sie auf dem Fuße verfolgt, sobald sie aus dem Zimmer trat, doch das machte überhaupt nichts.
Da sie nicht wusste, wo Cohen sich gerade befand, und die verzauberte Taube, die er zu ihr geschickt hatte, sofort wieder davongeflogen war, gab es nur einen Weg, Cohen zu erreichen: Galia.
Die Stute war seit Cohens Verschwinden unruhig. Der Stallmeister fluchte stets über sie. Sigha besuchte sie jeden Tag, brachte ihr trockenes Brot mit, weshalb ihr Gang zu den königlichen Ställen nicht ungewöhnlich war.
Sie ging zu Galia rein und strich dem Pferd über den Hals. Es wirkte, als würde sie Galia streicheln, doch im Verborgenen flocht sie in die dicke Mähne des Pferdes das Pergament.
Als sie fertig damit war, kraulte sie Galia hinter dem Ohr und flüsterte ihr zu: »Ich weiß, du kannst spüren, wo er ist. Bitte, ich hoffe, du verstehst mich, du musst zu ihm gelangen, mein Mädchen. Finde Cohen!«
Doch als Begleittier eines Jägers, war das Auffinden gar nicht nötig, Galia spürte, wo ihr Herr war, sie würde es immer spüren.
In einem unbeobachteten Moment, öffnete Sigha die Stalltür. Noch bevor sie gänzlich offen war, preschte Galia wild bockend hervor und galoppierte durch die Gasse nach draußen.
Stallburschen rannten ihr rufend nach, doch niemand konnte sie aufhalten, nicht einmal die Wachen beim Tor, die ihr erst in den Weg sprangen, und sich dann doch zur Seite warfen, als das wilde Tier keinen Halt machen wollte.
Sigha war umgeworfen worden. Ihr Bewacher hielt alles für einen Unfall. Er kam auf sie zu und zog sie auf die Beine. »Alles in Ordnung, Lady Sigha?«
»Ja.« Sie klopfte sich den Staub von den Röcken und lächelte verstohlen. »Ja, jetzt ist alles in Ordnung.«
***
Als er durch die Flure seiner Burg ging, waren Rahffs Schritte noch immer schwach und schlurfend. Er mahlte verbissen mit den Kiefern, weil er seine eigene körperliche Schwäche verabscheute.
Zu lange hatte er im Bett verbracht, zu viel Zeit mit seiner Genesung vergeudet, und obwohl die Heiler ihn weiterhin ans Bett fesseln wollten, war er aufgestanden, um sein Amt walten zu lassen.
Er war der König, verflucht noch mal! Ohne ihn ging das Land unter, er konnte sich den Luxus nicht erlauben, seine Wunden abheilen zu lassen.
Nun war er auf dem Weg zu einer wichtigen Verhandlung und wünschte sich, seine Beine würden sich nicht anfühlen wie Blätter im Wind. Schwach und leicht umzuknicken. Oder, dass sein Körper zumindest in der Lage wäre, aufrecht zu stehen, denn er wollte nicht, dass der Gesandte aus Gino die Botschaft zu seinem Lord brachte, dass der König schwach und angreifbar war. Er wollte sich die Folgen daraus gar nicht ausmalen.
Doch als er durch den Doppeltürbogen schritt und den Mann am Fenster erblickte, der hinaussah und mit dem Rücken zu ihm stand, waren all seine Gedanken dahin.
Ihn hätte er hier nicht erwartet.
»Welch eine Ehre, Euch persönlich anzutreffen.« Rahff hatte schnell seine Fassung zurückerlangt. Trotz Schwindelgefühl im Kopf und Schmerzen in seinem pochenden Gesicht, drückte er den Rücken durch und straffte stolz seine muskulösen Schultern. Er trat ein und ließ durch ein knappes Nicken die Türen von seiner Leibgarde schließen.
Seine feinen Fingernägel begutachtend, drehte sich der andere Mann gelangweilt zu ihm um. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und beleuchtete die linke Hälfte seines dunkelhäutigen Gesichts, sein dunkles Haar reichte ihm über die Stirn bis kurz über die mandelförmigen Augen, die sich recht überheblich an Rahff wandten. »Die Ehre sollte wohl auf meiner Seite vorherrschen, nicht wahr, mein König?« Der Gesandte verneigte sich voller Anmut, doch Rahff konnte den Spott, der von der vermeidlich unterwürfigen Geste ausging, beinahe in der Luft im Raum schmecken.
Er schnaubte verachtend, konnte sich aber eilig wieder zusammennehmen und Haltung wahren. Während er hinter seinen Arbeitstisch trat, bedeutete er seinem Gast, sich davor in den Stuhl zu setzen. Wenn Rahff in seiner Zeit als König eines gelernt hatte, dann war es, seine Launen und Gedanken Beiseite zu schieben. Es brachte ihn nicht weiter, sich von Gefühlen, ob guten oder schlechten, leiten zu lassen. In Zeiten des Konflikts konnte er sich Hass nicht erlauben, es sei denn, ihm wäre sein Volk egal. Und auch wenn die Gerüchte anderes behaupteten, Rahff war sein Volk nie gleichgültig gewesen. Er liebte Nohva, er wollte das Beste für Nohva.
Deshalb war es an der Zeit, umzudenken. Und da er Schavellen nie dazu bringen konnte, den Krieg mit den Rebellen beizulegen, musste er sich nach anderen Verbündeten umsehen.
Ein Bündnis war unabdingbar, es war notwendig in dieser Zeit, denn jetzt stand ein alter Feind wieder auf dem Spielbrett und – die Götter mögen ihn bewahren – dieses Mal war M`Shier zur Festung gelangt, und da Clivia keine Meldung über dessen Tod geschickt hatte, konnte Rahff davon ausgehen, dass sein Erzfeind eine mächtige Armee befreit hatte.
Und dies war erst der Anfang.
Rahffs Gast setzte sich und überschlug vornehm die langen Beine. Er war ein großer, schlanker Mann, ganz offensichtlich ein Politiker, kein Krieger. Sein Blick war kühl, ein wenig überheblich, aber nicht herablassend. Geduldig wartete er ab, was der König im zu sagen hatte, ohne ungeduldig zu schnauben, während Rahff ihn eingehend betrachtete. Der Mann strich sich über Brust und Bauch und glättete dabei die beigefarbene Seide, die hauteng an seinem Körper lag. Wäre er nur etwas kleiner, seine Haut heller und seine Augen rund und groß, hätte er Rahff mit seiner Haltung und seinem Blick an Sevkin erinnert.
Als die Erinnerung an seinen jüngsten Sohn wie ein Gespenst durch seinen Kopf spukte, verspürte Rahff einen todeskalten Stich im Herzen.
Nicht nur, dass er um ihn trauerte, wäre Sevkin nicht gehängt worden, hätte Rahff auch Cohen nicht verloren. Dessen war er sich sicher.
Er räusperte sich und zwang sich, den Kopf aufrecht zu halten, weil er vor seinem Gast niemals geknickt wirken wollte.
»Nun denn«, begann Rahff ruhig und gelassen, als litte er keine unerträglichen Schmerzen, körperlich und im Geiste. »Ich nehme an, Euer Vater reiste nicht mit Euch, Si`haas?«
Si`haas lächelte Rahff an. »Vergebung, nein.«
Rahff