Der verborgene Erbe. Billy Remie
seitjeher, mein Kronprinz.«
Nur zwei Tage nach diesem Gespräch reisten sie ab, genau einen Tag bevor eine verzauberte Taube mit einer Nachricht aus Nohva im Könighaus Carapuhrs eintraf.
2
Die Pergamentrolle in ihrer Hand knisterte, je fester sie sie umschloss. Ihr Blick gereichte über den Balkon ihrer Gemächer zum fernen Horizont. Sie war nachdenklich, in sich gekehrt, und voller Furcht, während hinter ihr in ihren privaten Räumen ihre Kinder miteinander auf dem Boden saßen und mit Rollo, ihrem Hund, spielten. Eine Amme bewachte die drei Geschöpfe.
Vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer die geschriebenen Worte vor sich, die auf dem Zettel standen, den sie eisern umklammerte. Er war schon vor Tagen angekommen.
Flüchte so schnell du kannst mit den Kindern und unserem Ungeborenen zu den Rebellen. Ich treffe dich dort. In Liebe, C.
Cohen.
Endlich hatte er den richtigen Weg gewählt, dachte Sigha bei sich. So lange hatte sie versucht, ihn dazu zu drängen, weil sie selbst nicht mehr hier sein wollte, nachdem ihr geliebter Raaks im Krieg gefallen war. Hätte sie sich damals nicht in Raaks verliebt – dem Kronprinzen – hätte Sigha schon im Jugendalter das Gebirge verlassen, um sich den Rebellen anzuschließen. Gerne auch als Kriegerin. Doch dann hatte sie ein Kind empfangen – und alles hatte sich verändert.
Und auch jetzt, obwohl sie es sich ersehnt hatte, bekam sie Furcht davor, diesen Schritt zu wagen. Stünde nur ihre eigene Sicherheit auf dem Spiel, wäre sie schon vor Tagen aus der Burg geflohen. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, da König Rahff noch mit schweren Wunden kämpfte und bettlägerig war. Niemand schenkte ihr große Beachtung.
Sie hätte längst fliehen können.
Doch Sigha zögerte. Denn sie musste auch an die Sicherheit ihrer Kinder denken. Sie waren noch so jung, und Sigha erwartete bereits das nächste. Natürlich wollte sie, dass Cohen sein leibliches Kind in die Arme schließen konnte, doch was für eine Mutter wäre Sigha, wenn sie ihre unschuldigen Kinder in den Krieg führte?
Denn genau das würde wohl geschehen. Die Rebellen waren Krieger, Kämpfer des Aufstandes. Vielleicht hatten Kinder und Schwangere dort nichts verloren.
Andererseits … wie viel sicherer waren sie hier auf der Burg? Die Schavellens hatten es bereits geschafft, Rahffs letzten rechtmäßigen Erben in eine Falle zu locken. Jetzt blieb dem König nicht einmal sein Bastard, denn Cohen hatte sich gegen ihn gestellt.
Warum?
Sigha hätte ihn gerne danach gefragt. Was war dort draußen geschehen? Was hatte Cohens festgefahrene Meinung geändert? Warum dieser plötzliche Sinneswandel?
Letztlich waren die einzig noch verbliebenen Erben der Linie der Youris Sighas Kinder, Marks und Ilsa. Und sie ahnte, dass das kranke Missfallen der Schavellens nun auf sie fallen würde.
Egal, was Sigha tat, ob sie floh oder hierblieb, ihre Kinder waren überall in Gefahr. Und das war das Schlimmste für eine Mutter. Sie konnte ihre Kinder nicht schützen.
Aber sie würde ihr Möglichstes tun.
Zärtlich strich sie sich über die sanfte Wölbung ihres Leibs. Obwohl sie Cohen nicht als Gatten liebte, liebte sie ihr gemeinsames Kind.
Doch wo sollte es aufwachsen? In welche Welt sollte es reingeboren werden?
In ihrer Verzweiflung hatte sie früh an jenem Morgen den Rat der Hexen aufgesucht, die tief im Wald versteckt verweilten, und den Verzweifelten die Zukunft verkündeten.
Wie befürchtet, rieten sie umgehend zur Flucht. Angeblich hätten sie genau das schon vor Monaten kommen sehen. Das Kind in Sighas Leib – sie musste es zu seinem Vater bringen. Nur so würde es überleben.
Was ihr Leben und das Leben ihrer beiden älteren Kinder betraf – die Kinder des Mannes, den sie so sehr geliebt und verloren hatte – hielten die Weissagungen keine Antworten bereit.
Aber so war das mit den Hexen, sie gaben nur preis, was sie preisgeben wollten, um die Geschehnisse der Welt nach ihren eigenen Maßstäben zu formen.
Sigha hatte das immer gewusst, trotzdem suchte sie den Rat des Zirkels, weil sie nicht wusste, wo sie sonst um Rat bitten sollte.
Bei der Kirche? Wie lächerlich das klang, in den Ohren einer Frau, die von ihrer Kirche dazu gezwungen wurde, dem Willen der Männer zu unterliegen.
Trotzdem zögerte Sigha weiterhin, denn sie sorgte sich um Marks und Ilsa, wollte nicht, dass die beiden inmitten eines Krieges heranwuchsen.
Doch fern waren die Kämpfe ohnehin nicht mehr. Sigha blickte auf den düsteren Schatten am Horizont, der sich immer weiter ausbreitete. Die Dämonen nahmen sich all das, was der Krieg bereits in Brand gesteckt hatte.
Ihr Land war dem Untergang geweiht. Und Sigha war zu verzweifelt, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Jetzt schien es ohnehin zu spät.
Vor wenigen Augenblicken hatte Sigha über das Geschwätz der jungen Amme erfahren, dass König Rahff wohlauf war und seine Gemächer verlassen hatte, um sein Amt walten zu lassen. Der König war nicht leicht zu töten, und jetzt wieder genesen genug, um seine Untertanen zu bewachen.
Dazu zählten auch Sigha und ihre Kinder.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gebracht, stieß jemand die Türen zu ihren Gemächern auf, sodass die Kinder mit einem leisen Aufschrei aufsprangen und zurückwichen.
Sigha drehte sich um, sie raffte die Röcke ihres grünen Seidenkleides, das ihrer dunklen Haarmähne schmeichelte – die sie bei Hof hochgesteckt tragen musste – und eilte vom Balkon ins Innere ihrer Räumlichkeiten.
»Was soll das?«, fragte sie barsch.
König Rahffs düstere Miene schlug ihr augenblicklich entgegen. Er war in den Raum gestampft und stand nun groß und imposant vor ihr, hinter ihm die königliche Leibgarde, stumme Männer mit reglosen Mienen, wie teilnahmslose Statuen.
»Nimm die Kinder und geh mit ihnen spazieren, Frida!«, trug er der Amme auf, ohne den starren Blick von Sighas trotziger Miene zu nehmen.
»Ja, Eure Hoheit. Sofort, Eure Hoheit.« Die eingeschüchterte junge Frau legte die Stickerei fort, an der sie gearbeitet hatte, und ging auf die Kinder zu.
Sigha wollte sich ihr in den Weg stellen, als die Leibgarde des Königs plötzlich vorschoss und sie ohne eine Waffe zu heben allein durch seine Körpersprache bedrohte.
Wütend – trotz ansteigender Nervosität – warf Sigha einen Blick ins Rahffs Miene.
Der König sah blass aus, sehr kränklich. Sein Kopf war mit einem nässenden Verband umwickelt, der die eine Hälfte seines Gesichts verbarg. Sigha hatte Geschichten über die tiefe Wunde des Königs gehört, sie jedoch nie selbst gesehen. Neugierig war sie schon, wie das Gesicht unter dem Verband nun aussah.
»Mami?«, quiekte Ilsa ängstlich.
Sigha zwang sich, ihrer Tochter zuzulächeln, die sich dagegen sträubte, aus dem Raum gebracht zu werden. »Schon gut, Schatz. Geh mit Frida. Ich komm sofort nach.«
Die kleine Maus schien skeptisch. Sigha nickte ihrem Sohn zu, der seine Schwester an die Hand nahm und sie mit sich zog, dabei beruhigend auf sie einredete.
Rahff sah ihnen nach und sagte nachdenklich: »Er ist ein tapferer kleiner Bursche. Klug. Stark. Beschützt schon jetzt seine Schwester.«
»Er kommt nach mir.« Es bereitete Sigha Freude, den König zu reizen, indem sie ihren Kindern nur Eigenschaften ihrer eigenen, unbedeutenden Bauersfamilie zusprach, statt zuzulassen, dass Rahff behauptete, Marks könnte nach seinen Vorfahren kommen.
König Rahff ging nicht darauf ein. Er sah Sigha an, doch seine harschen Worte richteten sich an seine Männer: »Lasst uns allein!«
Ohne das geringste Zögern