Reginald. Johs. Georget

Reginald - Johs. Georget


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gewollt hätte, war er doch hier mal endlich unter seinesgleichen. Doch nein, hier konnte er nicht bleiben, obwohl er so gern zu dem Dankeschönfest, auf das er sich so sehr gefreut hatte, geblieben wäre. An Feiern dachte jedoch niemand hier und so nahm er schließlich seinen Abschied, freundlich zwar, jedoch entschieden und bestimmt, und ging.

      Er wanderte los und gab sich den Anschein frohen Mutes. Anfänglich gelang es ihm auch noch, die bösen Gedanken wegzupfeifen, jedoch: Sie waren beharrlicher als seine guten und so kam es, dass er sich Unterwegs sein klitze-klitzekleines Gehirnlein zermarterte, sein Gehirnchen, in dem nun ein wenig mehr Platz geworden war, weil: Die Freude war jetzt fort. Und so breiteten sich die Marterqualen aus. Er lief die ganze Nacht. Ein kleines Glück war es, dass der Vollmond ihm leuchtete und den Weg wies und ihn vor größerem, leiblichem Schaden bewahrte. Er ging, nein, sein Vorankommen glich schon nach kurzer Zeit in nichts mehr seinem freudigen Umhergehoppel von hier nach da, nach überall, war vielmehr ein unausgesetztes Stolpern, eine schnurstracks vorwärts, heimwärts gerichtete Reihe von Stürzen, die er, ohne sich dessen recht bewusst zu sein, absolvierte mit hängendem Kopf und hängenden Ohren, hängenden Schultern und hängendem Schwanz während er grübelte.

      Nein. Auf eine Lösung kam er nicht. Auf eine einfache nicht und nicht auf eine komplizierte. Musste denn, wer etwas geboten bekam, wirklich eine Rechnung aufmachen und sich verschulden? Statt sich nur einfach zu bedanken? Sollte das wirklich so sein? Und wenn ja, konnte denn dann, wer sich selbst einmal etwas wünschte, die Erfüllung dieses Wunsches auch nur gegen eine Schuld erlangen? Statt gegen ein von Herzen kommendes „Bitte“? Müsste man denn dann nicht bereits schon vor dem Wunsch aus Angst vor dieser großen Schuld ganz üblen Gewissens sein und lieber gleich von vornherein und ganz und gar darauf verzichten? War er, waren mit ihm alle in seinem Wald einfach zu sorglos? War es das? War seine Welt verkehrt? Waren die Schlüsselchen nicht mehr blank? Hatten sie Rost angesetzt? Waren vielleicht die Schlösser eingerostet? Oder waren die Schlüsselchen auch nur eines dieser Klein-Eichhörnchen-Märchen gewesen, die nur so lange für wahr genommen werden durften, wie die Hörnchen selbst daran glaubten?

      Endlich, kurz vor dem neuen Morgen am Wohnbaum angelangt, der Körper entkräftet, das Hirn zermartert und der Schwanz verschmutzt so wie noch nie, legte er sich in seinem Kobel nieder. Aber der Schlaf wollte nicht recht kommen. Immer wieder dachte er bei sich, ich hab’s doch aber auch für mich getan. Immer hab ich mich so wohl gefühlt nach einer guten Tat. Und wenn mir einer eine gute Tat getan hat, hat er sich selbst dafür gefreut. Und dafür hab ich mich gefreut. Und das war Hörnchenkram, ein Märchen, falsch.

      War das falsch?

      Kann das so falsch gewesen sein?

      Er schlief zwar ein, fiel aber nicht in den erfrischenden Schlaf wie sonst, nach glücklichen und ausgefüllten Tagen, sondern in einen fiebrigen, mit schlimmen Träumen um die große Last der schweren Schuld. Und Tag um Tag verging so ohne Besserung. Er aß nicht und er trank nicht. Der Glanz wich von seinem Fell, der schmutzige Schwanz wurde zunächst struppig und dann räudig und die Haare wurden immer spärlicher. Reginald verließ seinen Kobel nur ganz selten, wenn es vor Hunger oder Durst nicht auszuhalten war, und dann meist in der Dunkelheit, damit ihn auch ja niemand sah.

      Einzig Enno, sein Freund durfte bisweilen seinen Schnabel in den Kobel stecken und dem klagte Reginald dann sein ganzes großes Leid.

      Enno wusste, dass Seelenpein so schnell niemanden umbrachte. Bisweilen ging einer daraus gestärkt hervor, so mancher andere geläutert, die meisten jedoch nur geschwächt. Alle aber waren nachher anders als zuvor. Eins war ihm klar: Das einmal verlorene Paradies konnte er Reginald nicht wiedergeben. Jedoch, was Enno ganz und gar nicht gegeben war – und auch niemand anderem auf dieser ganzen großen Welt: Es war ihm schlicht unmöglich, sich wirklich in Reginald hinein zu versetzen, sich vorzustellen, welch einen Sturm die Erlebnisse in ihm ausgelöst hatten und was für Verheerungen dieser Sturm in Reginalds Seelchen angerichtet hatte.

      Doch er ahnte das. Und deshalb versuchte er mit der Fürsorge des väterlichen Freundes und mit der Weisheit des Erfahreneren Reginald zu trösten und ihm die Welt und das Leben zu erklären. „Unser Wald ist eine Gemeinschaft verschiedenster Wesen“ sagte er „Guck nur zum Beispiel erst einmal dich an und dann mich. Wie würdest du wohl mit meinen Schnabel aussehen, oder ich mit deinen Pinselöhrchen. All diese verschiedenen Wesen bilden eine Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat sich über lange Zeiträume entwickelt, hat ihre Regeln, Rituale und Gesetze aufgestellt, ohne die sie nicht das wäre, was sie heute ist und damit ist sie unsere Welt geworden. Auch das Bitteschön-Dankeschön-Ritual, das du mitgebracht und hier eingeführt hast, gehört dazu. Und auch in jedem anderen Wald gibt es solche Gemeinschaften, mit Regeln, Ritualen und Gesetzen. Nur eben mit anderen.

      Und so ist jeder andere Wald auch eine andere Welt.

      Die Kunst des Reisenden ist es, die anderen Welten einerseits zu akzeptieren und andererseits die eigene sich selbst zu wahren, sich selber und den Seinen immer treu zu sein.“

      Immer wieder, aber nur wenn er ganz alleine war, musste Reginald ein ganz kleines Bisschen weinen vor lauter Unglück und Verzweiflung, und darüber, dass alles auf einmal so ganz anders geworden war und davon wurden seine großen, sonst immer so blitzeblanken Knopfäuglein ganz matt.

      Er verließ seinen Kobel schließlich gar nicht mehr. Schlecht hätte er sich gefühlt, hätte er jemanden um etwas bitten sollen, übel, würde er um etwas gebeten werden, abscheulich, würde er etwas verschenken und furchtbar, würde ihm etwas geschenkt.

      Erdrückend wie eine uneinlösbare Hypothek, ein geplatzter Wechsel, ein ungedeckter Scheck, wie Falschgeld waren alle Freundschaftsbezeugungen, wenn sie nicht mit einem einfachen Bitte oder Danke zu begleichen waren. Und das war ihm nun nicht mehr möglich.

      Die Familie des Mädchens hatte ihm gezeigt, dass Dankbarkeit eine Schuld aufmachen kann. Und das konnte er einfach nicht verstehen, nicht auf sich nehmen. Und doch musste es gültig, wichtig und richtig sein. Wie sonst wäre es möglich, dass erwachsene Eichhörner danach handelten und ihr Leben danach einrichteten. Wie sonst, dass es ihn dermaßen verunsichert hatte und er sie nicht hatte von seiner, doch um so vieles einfacheren Ansicht überzeugen können.

      Immer war es seine Ansicht gewesen, der Wald gäbe doch so viel her, dass alle davon leben könnten. Und wenn alle einander dabei halfen, dann doch nur umso besser. Dies würde doch das Leben nur noch schöner machen.

      Manchmal, so wie ein Schlaglicht, kam ihm der Schimmer einer Erinnerung an einen wunderschönen, fernen Tag, der begonnen hatte mit einem vorwitzigen, klitzekleinen Sonnenstäubchen. Einen Tag, der so betörend begonnen hatte, mit einem Himmelsblau, als Goldtag – und geendet mit einer alle Zukunft überschattenden Erkenntnis, schwarzer Nacht.

      Ach, seufzte er, wie dumm bin ich doch nur gewesen, wie unwissend und, trotz meiner großen Äuglein, blind.

      Und wie glücklich.

      So siechte er dahin.

      Die Waldbewohner begannen ihn zu vermissen. Das ständige Kichern und Lachen im Wald, das Jauchzen und das Jubilieren verebbte bald, von Tag zu Tag ein bisschen mehr und versiegte schließlich ganz.

      Das Glück hatte den Wald verlassen.

      Schließlich fragten sie Enno, den Adler, was denn wohl mit Reginald Eichhorn geschehen sei, aber Enno, der Älteste von allen und der Weiseste und der am weitesten Gereiste, krächzte nur:

      „Nun ja, der wird schon wieder. Ein bisschen anders, wohl, wohl wahr, wie sollte es auch anders sein.

      Tja, er wird wohl nie wieder der sein, der er uns immer war. Ja, jammerschade ist’s.

      Eigentlich.

      Jedoch, was wollt ihr denn: Ist doch ganz menschlich!

      Das eine wie das andere:

      Das Rechnen wie das Grübeln.

      Man nennt das auch: Entwicklung.

      Oder: Erwachsenwerden.“

      Das Lebensgeflecht

      Dunkel


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