Frühling im Oktober. Sophie Lamé

Frühling im Oktober - Sophie Lamé


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15. September 2011

      In der Rue de Rennes herrschte Hochbetrieb. Die Menschen auf den Bürgersteigen waren alle in größter Eile. Als seien sie auf der Flucht vor einer unsichtbaren Gefahr, dachte Mike. Und wahrscheinlich waren sie doch nur auf dem Weg zu einer Verabredung, zurück zum Büro oder passten sich einfach nur dem Strom an, der sich an diesem regnerischen Vormittag durch eine der geschäftigsten Straßen des 5. Arrondissements schlängelte. Mike verlangsamte seine Schritte und wurde sogleich von einem hinter ihm laufenden Herrn angerempelt. „Pardon“, murmelte er und Mike beeilte sich, diese in Paris so verbreitete Entschuldigung zu erwidern. Selten hatte er eine Stadt erlebt, in der man sich so oft entschuldigte. Wenn man in den langen Metrogängen die Kurve zu scharf nahm und unversehens ein fremdes erschrockenes Gesicht vor sich hatte. Wenn man durch die Tür eines Geschäftes ging, durch die ein anderer entgegenkam. Oder eben, wenn man jemanden auf den Bürgersteigen der Großstadt anrempelte. „Pardon.“ Diesmal war das so häufig benutze Wörtchen von einem leicht genervten Blick einer Passantin begleitet, die sich an Mike vorbeischlängelte. Er war in Gedanken versunken gewesen und hatte gar nicht bemerkt, dass er stehengeblieben war. Er machte einen Schritt zur Seite und blickte der jungen Frau nach. Paris! Wie er diese Stadt liebte! Gerne wäre er noch ein wenig herumgeschlendert, aber sein Auftraggeber wartete. Er zog seinen dunkelgrauen Baumwollschal zurecht und wandte sich dem Haus zu, vor dem er stand. „Wo ist denn hier die Hausnummer?“, murmelte er und entdeckte schließlich ein grün umrahmtes Schild mit einer weißen 143 auf blauem Untergrund. Dann musste es also gleich nebenan sein. Ja, da war der Eingang und links davon entdeckte er auch schon ein blank poliertes Messingschild mit der Aufschrift „Éditions Adventure“. Klingelknöpfe waren keine zu sehen, dafür ein viereckiges Zahlenfeld – sicher für den Türcode. Direkt darunter befand sich ein Knopf, auf den Mike nach kurzem Zögern drückte. Ein Summen, gefolgt von einem kurzen Knacken, und die Tür ließ sich öffnen. Mike trat in einen großzügig angelegten Hausflur, der von einer trüben, alten Lampe mit fast blinden Glasflächen in einer rostigen Einfassung erhellt wurde. Der Boden schien aus Marmor zu sein und am Ende des Ganges konnte er schemenhaft eine breite Treppe erkennen, deren Stufen mit einem dunkelrot gemusterten Teppich belegt waren. Er wollte schon darauf zugehen, als sich neben ihm eine verspiegelte Tür öffnete, die ihm gar nicht aufgefallen war.

      „Bonjour Monsieur.“

      Eine ältere Dame schlurfte auf Hausschuhen auf ihn zu und beäugte ihn interessiert. Ihre Haare wurden von einem wild gemusterten Samtband zusammengehalten und über ihrer ebenso bunten Kittelschürze trug sie eine dicke, wollene Strickjacke. Eine ausgeleierte Baumwollhose komplettierte ihr eigenwilliges Outfit.

      „Kann ich Ihnen helfen?“

      „Bonjour Madame, ich suche die Büros des Adventure-Verlages“, antwortete Mike, nachdem er sich kurz gesammelt hatte. Seine Französischkenntnisse waren ein wenig eingerostet und er musste erst nach den passenden Worten suchen. Aber die Concierge verstand ihn auf Anhieb und schickte ihn mit einer kurzen Kopfbewegung zum Treppenaufgang.

      „Dritter Stock, die Tür auf der linken Seite. Es gibt auch einen Aufzug, gleich neben der Treppe“, rief sie ihm hinterher.

      Mike bedankte sich und lief in die angegebene Richtung. „Ich nehme lieber den Fahrstuhl“, murmelte er in seinen Schal. Bei seinem momentanen Fitnesszustand käme er bestimmt laut schnaufend im dritten Stock an. Japsend nach Luft schnappend und mit Schweißperlen auf der Stirn vor dem Verlagschef zu sitzen – er konnte sich Besseres vorstellen. Schwungvoll öffnete er die Aufzugtür und starrte kurz darauf entgeistert in die erleuchtete Kabine. Da passe ich nie hinein, war Mikes erster Gedanke.

      „Allez-y, allez-y“, tönte die Stimme der Concierge, die sein Zögern wohl bemerkt haben musste, vom Ende des Flures. „Der sieht nur so klein aus, aber wenn man erst einmal drin ist, geht es schon.“ Sie lachte leise und war kurz darauf hinter der verspiegelten Tür ihrer Hausmeisterwohnung verschwunden.

      „Na, wenn das so ist“, rief Mike in den inzwischen verlassenen Hausflur hinein und machte einen Schritt nach vorne. Ob er lieber gleich rückwärts hineinlaufen sollte? Umdrehen konnte man sich in diesem Miniaturaufzug bestimmt nicht. Er entschied sich für seitwärts und drückte entschlossen den weißen Knopf mit einer verschnörkelten, goldfarbenen 3 darauf. Ruckelnd schlossen sich die Türen und mit einem schleifenden Geräusch setzte sich der Aufzug in Bewegung. Am Ziel angekommen, suchte Mike auf dem eleganten Flur die Tür zu den Räumen des Verlages. Kaum hatte er auf den Klingelknopf gedrückt, wurde ihm auch schon geöffnet. Eine kleine zierliche Dame von etwa 60 Jahren erschien in seinem Blickfeld. Sie trug ein schlichtes, graues Kostüm, dem ein Hermès-Schal ein wenig Lebendigkeit verlieh. Ihre schwarz umrandete Brille hatte sie in die von grauen Strähnen durchzogenen Haare geschoben und streckte ihm eine schmale Hand entgegen, die eine elegante goldene Uhr zierte.

      „Ich bin Madame Junot“, sagte sie mit leiser, aber energischer Stimme. „Ich bin die Assistentin von Monsieur Lussac. Herzlich willkommen bei Adventure. Monsieur erwartet Sie schon, ich werde Sie in sein Büro begleiten.“

      Sie schaute ihn mit einem freundlichen und ebenso prüfenden Blick an. „Wenn Sie mir bitte folgen möchten.“

      Ihre eleganten schwarzen Schuhe klapperten eilig über wunderschön aufgearbeitetes altes Parkett und Mike bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. Schließlich blieb sie vor einer weißen Flügeltür stehen, klopfte kurz an und bereits im nächsten Moment nickte sie Mike zu und streckte ihren Arm in seine Richtung aus. „Bitte sehr, treten Sie ein.“

      Der Anblick des riesigen Büros verschlug Mike die Sprache. Der Raum maß mindestens 40 Quadratmeter und wurde von einem gigantischen, modernen Schreibtisch aus weiß lackiertem Holz mit einer Platte aus grünlich schimmerndem Milchglas dominiert. Große, bodentiefe Fenster ließen viel Licht herein und gestatteten den Blick auf die Bäume eines kleinen Innenhofes. Eingerahmt wurden die herrschaftlichen Fenster von schweren cremefarbenen Brokatvorhängen, deren Muster die bourbonische Lilie in verschiedenen Goldtönen darstellte. Edle Orientteppiche in gedeckten Farben bedeckten den Parkettboden und an den Wänden fanden sich zeitgenössische Bilder in schweren, altmodischen Rahmen. Ein Kristalllüster gewaltigen Ausmaßes hing von der stuckverzierten Decke herab. Ansonsten war der Raum leer.

      Mike riss sich zusammen und steuerte auf den Schreibtisch zu, hinter dem sich nun ein kleiner, drahtiger Mann um die 50 aus einem tiefen Bürostuhl aus weißem Leder erhob.

      „Sie müssen Michael Brinkmann sein“, rief er aus und streckte ihm die Hand über die Breite des Tisches entgegen. „Bitte, setzen Sie sich doch.“

      Mike ließ sich etwas umständlich auf dem bequemen Besuchersessel nieder. Keine Frage, er war nervös. Aber der Chef der „Éditions Adventure“ war ihm auf Anhieb sympathisch und so verlor sich seine Aufregung schnell. Er strengte sich an, jedes Wort dessen zu verstehen, was Monsieur Lussac ihm nun zu erzählen begann.

      Etwa eine halbe Stunde später kannte er den Inhalt seines Auftrages. Er sollte einen Artikel über den großen Pariser Friedhof Père Lachaise schreiben. Allerdings nicht über die berühmten Menschen, die dort lagen.

      „Nein“, redete sich Monsieur Lussac in Rage, „Jim Morrison, Balzac, Isadora Duncan und die Callas, pff, deren Geschichten kennt doch jeder. Tausende Touristen pilgern jährlich zu den Gräbern dieser prominenten Friedhofsbewohner. Doch was ist mit den anderen? Achtlos gehen die Besucher vorbei an all den normalen Menschen, die ein Leben lang geschuftet und vielleicht sogar weltbewegende Dinge getan haben. Bewegend zumindest für ihre eigene, kleine Welt. Brave Bürger, die Revolutionen, Wirtschaftskrisen, Kriege, große Ereignisse und kleine Begebenheiten erlebt haben.“ Aufgeregt rutschte er auf seinem Ledersessel hin und her. „Niemand bleibt am Grab des Handwerkers stehen, der die allerletzte Stahlstrebe des Eiffelturms am 31. März 1889 verankerte – und wen interessiert schon das Grab der Dame, die im Jahre 1895 ihre Stelle als Assistentin von Hector Guimard antrat, dem berühmten Architekten und Schöpfer der kunstvollen Metroschilder, die noch heute so manchen Eingang der Stationen zieren. Aber“, schnaufte Lussac zufrieden, „das wird sich nun ändern. Sie sind bekannt für Ihre Recherchekünste. Wenn jemand solche Geschichten auftun kann, dann Sie.“ Erwartungsvoll richtete er seine Augen auf Mike. „Sind Sie dabei?“

      Es


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