Frühling im Oktober. Sophie Lamé

Frühling im Oktober - Sophie Lamé


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zum Nachmittag war die Straße nun noch stärker befahren. Autos hupten und Busse rauschten in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der extra für sie reservierten Spur heran. Dazwischen tummelten sich Motorradfahrer, Radler und einige offensichtlich lebensmüde Fußgänger, die versuchten, fernab der Ampeln über die verstopften Fahrspuren auf die andere Straßenseite zu gelangen. Er überlegte kurz. Heute war er zu müde, um sich noch in eines seiner Lieblingsbistros zu setzen. Aber gleich morgen früh würde er nach Passy fahren und dort seinen ersten Arbeitstag in Paris mit einem Café Crème beginnen. Er liebte dieses Viertel im 16. Arrondissement. Während seiner Studienzeit hatte er ein halbes Jahr dort gelebt, bei stundenlangen Spaziergängen erkundet und bestens kennengelernt. Passy hatte den Ruf, eine der versnobtesten und großbürgerlichsten Gegenden der Metropole zu sein. Und natürlich gab es dort einige sehr teure Läden. Die Straßen waren baumbestanden und von gepflegten Stadthäusern gesäumt, in denen es Wohnungen gab, die von einem Normalsterblichen kaum zu bezahlen waren. Aber es gab auch kleine Gässchen mit engen Bürgersteigen, auf die die Bistrobesitzer klapprige, korbbespannte Holzstühle setzten und alte Lädchen, in denen Gemüse angeboten wurde, das aussah, als hätte es der Ladenbesitzer noch am Morgen selbst aus der Erde gezogen. Betrat man die Markthalle am Beginn der Rue Duban, war man mitten drin im Pariser Leben, im Mikrokosmos des Stadtviertels, wo sich die Händler und ihre Kunden zum Teil sogar mit Namen kannten. Mit einem Mal wurde Mike bewusst, dass das, woran er gerade dachte, greifbare Realität war. Er war tatsächlich und wahrhaftig in Paris. Und er hatte das Glück, diese Stadt eine ganze Weile genießen zu können. Mit all ihren Gerüchen, ihren Geräuschen, ihren Besonderheiten und ihren Menschen. Und er würde einen Artikel schreiben, einen richtig guten Artikel, jawohl! Inzwischen war er schon ein Stück die Rue de Rennes hinuntergelaufen und meinte bereits eine Metrostation aus der Ferne zu erkennen, als er es sich noch einmal anders überlegte. Er hatte Lust bekommen, mit dem Bus zu fahren, um die Stadt an sich vorbeiziehen zu sehen. Ein paar Schritte vor sich sah er eine Haltestelle und auf diese steuerte er nun zu, um zu sehen, welche Buslinien hier anhielten. Ah ja, die 68, perfekt. Diese Linie fuhr in Richtung Opéra, das passte wunderbar. Mike musste nur einige Minuten warten, bis der grünweiße Bus ein paar Meter vor ihm zum Stehen kam. Er kramte ein Metroticket aus seiner Hosentasche, entwertete es in dem kleinen Automaten direkt an der Fahrerkabine und suchte sich einen freien Platz am Fenster. Er liebte es, sich in Paris mit den Stadtbussen fortzubewegen. Einige von ihnen befuhren wunderbar abwechslungsreiche Routen, vorbei an zahllosen Sehenswürdigkeiten, über breite Boulevards und vorbei am echten Pariser Leben. Aber Mike mochte nicht nur die Aussicht durch die Scheibe des Busfensters, auch die Passagiere faszinierten ihn. Gerade hatte eine alte Dame auf dem Sitz gegenüber Platz genommen. Alles an ihr wirkte edel. Die silbergrauen Haare waren zu einer perfekten Frisur zusammengesteckt und umrahmten ein ehemals wunderschönes Gesicht. Sie hatte einen Koffer bei sich und schaute mit nachdenklichen, fast traurigen Augen aus dem Fenster. Weder der ruppige Fahrstil noch das von wütendem Hupen begleitete Fluchen des Busfahrers konnten ihr eine Regung entlocken. Sie schaute bloß ins Leere. Woran sie wohl dachte? Mike lehnte sich gemütlich zurück, schaute in die dunkler werdende Stadt hinaus und ließ die Geschichte Gestalt annehmen.

      Vielleicht war sie in ihrer Jugend in Paris Mannequin gewesen, und kam nun nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder zurück. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gerne würde sie sich heute einreden, dass sie es sich wahrlich nicht leicht gemacht hatte, damals, als sie ihr Neugeborenes in die Obhut ihrer Schwester gegeben hatte. Aber nein, so war es nicht gewesen. Viel zu beeindruckt war sie zu jener Zeit von der glitzernden Welt der Mode, den Fotografen und dem Rummel um ihre Person. Und als sie dachte, sie hätte in Romain ihre große Liebe gefunden, hatte sie seinen Liebesschwüren nur zu gerne geglaubt. Der Krieg war vorbei, das Leben schön und verheißungsvoll. Die Konsequenzen einer Nacht mit Romain – im edlen Hotelzimmer und im seidigen Bett – hatte sie nicht bedacht. Oder war es ihr egal gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Die Schwester, selbst ungewollt kinderlos und eine treue Seele, nahm das Kind gerne an. Und seit dem Tag, als sie die Kleine in die Arme von Therèse gelegt hatte, hatte sie versucht, sie zu vergessen. Eine Zeitlang war ihr das gut gelungen, aber eines Tages hatte sich das Gewicht ihrer Tat auf ihre Seele gelegt wie ein nasses, schweres Tuch. Und nun, da sie sicher war, dass der Krebs sie nicht mehr lange würde am Leben lassen, wollte sie ihre Tochter noch einmal sehen. Aus der Ferne vielleicht, sie wusste es noch nicht. Sie hatte herausgefunden, wo Chloé wohnte und sich ein Hotelzimmer ganz in ihrer Nähe genommen. Und nun saß sie in diesem Bus der Linie 68 und würde an der Station Palais Royal aussteigen. Und dann … Man würde sehen …

      Als Mike den Kopf vom Fenster wandte, musste er feststellen, dass die Dame bereits ausgestiegen war. Nun gut, dann also nicht „Palais Royal“. Er lächelte und drückte auf den roten Knopf, der in Augenhöhe an der Stange vor ihm angebracht war. Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an und Mike sprang direkt vor dem Operngebäude auf den Bürgersteig. Er hatte die Floskel mit den Lebensgeistern, die wieder in einen Körper und in eine Seele zurückkehren, oft zu Papier gebracht. Aber an diesem Abend in Paris, als er begleitet vom lärmenden Verkehr und den Lichtern der Metropole durch die Straßen zu seinem Hotel spazierte, wusste er, wie es sich anfühlte.

      ACHT

       Paris. Samstag, 17. September 2011

      „Un café, un!“, rief der grauhaarige Anatole durch das dunkel getäfelte Bistro. Er hastete durch den Raum und ließ im Gehen das Trinkgeld, das er von dem kleinen runden Tisch direkt am Fenster geklaubt hatte, in die Tasche seiner schwarzen Weste gleiten. Als er an der Theke ankam, wischte er kurz mit einem Lappen über sein Tablett. Helen lächelte. Inzwischen wunderte sie sich nicht mehr darüber, dass die Kellner in Paris die Anzahl der bestellten Getränke am Ende des Satzes immer noch einmal wiederholten. Das hatte sie gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes hier gelernt. Erst knapp drei Wochen wohnte sie nun schon in dieser wundervollen Stadt. Anatoles Worte übertönten das Stimmengewirr im Tabac de la Muette und an der Bar machte sich ein Kollege sofort daran, die silbern glänzende Kaffeemaschine zu starten. Die schwarze, samtige Flüssigkeit floss in eine kleine weiße Tasse und mit einem lauten Zischen beendete das Ungetüm aus Chrom seine Arbeit. Die Tasse landete schließlich neben dem Korb mit frischen Croissants und wahllos abgestelltem Geschirr auf dem Tresen. Normalerweise nahm Helen ihren Morgenkaffee an der Theke ein. Echte Pariser machten das schließlich auch so. Morgens hatte niemand Zeit, sich an einem Tisch niederzulassen und lange und umständlich in der Tasse zu rühren. Und kaum war der petit noir getrunken, eilten sie alle zu ihren Jobs. In die Büros an der noblen Rue de Rivoli, einen Juwelierladen an der Place Vendôme oder in die Grundschule in der Vorstadt Marne la Vallée … Verkäuferinnen, Geschäftsleute, Verwaltungsangestellte, Künstler – am Tresen waren sie alle gleich. Die gleiche Eile, die gleichen Gedanken an den bevorstehenden Arbeitstag und wahrscheinlich auch die gleiche Vorfreude auf das, was nach dem Job kam. Aber heute war Samstag. Helen ließ ihren Blick durch das schon lieb gewonnene Lokal schweifen und musste an den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie Poulain“ denken. Es gab sie tatsächlich, die Ecke neben dem Tresen, an der die Tabakverkäuferin vor mit Zigarettenpäckchen randvoll angefüllten Regalen auf ihrem Barhocker saß. Im Tabac de la Muette hieß sie Babette, war Mitte 50 und stets in ein Ungetüm von einem Pullover gehüllt, den sie in mindestens zehn Farben besaß. Selbst gestrickt, mutmaßte Helen. Sie hatte gefärbte blonde Haare und ein Gesicht, das darauf schließen ließ, dass sie, was den Tabak betraf, wohl selbst ihre beste Kundin war. Gerade war sie dabei, ihre korallenrot lackierten Fingernägel zu inspizieren und dabei ein Schwätzchen mit dem alten Paul zu halten, der sich hinter der Theke ein paar Meter entfernt von ihr um die Getränkebestellungen kümmerte.

      „Sag mal, Paul, das ist doch wohl keine neue Weste, die du da trägst, oh là là, sag bloß, deine Frau hat dich zu einem Einkaufsbummel überreden können.“

      Sie lachte und erntete ein schiefes Grinsen von Paul, der erst nur eine wegwerfende Handbewegung machte und gleich darauf vernehmlich Luft ausstieß.

      „Ah, diese Frauen“, murmelte er und wandte sich seinen Bestellungen zu. Auch Babette ging wieder an die Arbeit, denn wie an jedem Samstag kamen eine ganze Menge Menschen aus dem Viertel hierher, um Lotto zu spielen. Auch das gab es in Babettes kleinem Reich. Die Chance auf den Geldsegen, auf ein unbeschwertes Leben mit vollem Bankkonto und viel


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