Ein trauriges Schloss. Catherine St.John
Wie lange war das wohl schon her? Sie wusste, dass Bonaparte vor einem Jahr endgültig besiegt worden war, Waterloo - in der Nähe von Brüssel - war schließlich in aller Munde gewesen, und sie hatte auf Lanford Hall wirklich genügend Zeit gehabt, die Zeitungen zu studieren! Schließlich hatte Marcus sie ja nur selten beachtet – und sie hatte auch nicht gewusst, wie diesen Zustand ändern sollte, also hatte sie nichts unternommen und sich auf die Haushaltsführung, Ausritte und Lektüre beschränkt.
Wie war sie jetzt auf die Vergangenheit gekommen? Ach ja – Waterloo. Oder Belle Alliance, wie die Preußen den Schlachtort zu nennen pflegten. Leider hatte die Morning Post nicht erklärt, warum – die beiden alliierten Mächte mussten sich doch auf einen Ort verständigen können?
Der Krieg auf der Halbinsel war aber schon vor über zwei Jahren zu Ende gegangen… also hatte er sich schon mindestens zwei Jahre lang hier vergraben? Ohne zu verlangen, dass man es ihm wenigstens einigermaßen gemütlich machte? Ohne wenigstens die Möglichkeiten des Landlebens zu genießen? Nur wegen einer Narbe und gelegentlicher Fieberanfälle?
Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass das schon alles war – aber das musste jetzt warten.
Jessop nahm die Information, er dürfe ein Waschmädchen einstellen, erfreut hin und teilte ihr mit, er habe da tatsächlich schon das geeignete Mädchen im Auge: „Miss Spells hat doch eine Schwester, die mit einem der hiesigen Bauern verheiratet war.“
„Sie sind ausgezeichnet informiert“, lobte Eleanor und Jessop seufzte: „Wenn man Miss Spells nicht umgehend in das Nähzimmer befördert und dann schleunigst die Flucht ergreift, redet sie wie ein Wasserfall. Und da sie außer ihrer Familie – oder besser der ihrer Schwester Abby – kein Thema kennt, wissen wir alle hier jede Einzelheit über Abby und all ihre Kinder.“
„Oh, wie viele hat sie denn?“
„Sieben! Sechs Töchter und einen Sohn, und der Hof ist sehr, sehr klein. Die älteste Tochter ist in Milton Regis in Stellung, die zweite in London. Die dritte ist verheiratet, mit einem Landarbeiter. Also haben sie immer noch drei Mädchen durchzufüttern. Ich denke, die viertälteste, Rachel, scheint geeignet. Sie ist immerhin schon vierzehn und zwar nicht gerade sehr klug, aber ein recht vernünftiges Mädchen, nach dem, was Miss Spells uns so vorzuschwatzen pflegt.“
„Dann schlage ich vor, Sie sprechen mit der Familie und bringen die kleine Rachel hierher. Ich bitte Nancy, ihr eine Kammer im Dienstbotentrakt vorzubereiten – und dann haben wir hoffentlich in Zukunft besser gepflegte Wäsche.“
Jessop lächelte knapp und verbeugte sich. „Das sollte mich freuen, Mrs. Warren.“
Eleanor war recht zufrieden mit sich, auch wenn sie sich selbst eingestehen musste, dass sich der Earl wohl kaum der Welt stärker öffnen würde, nur weil seine Handtücher nun weniger kratzten.
Sie überlegte, dass es ihr eigentlich gleichgültig sein konnte, ob ihr Dienstherr mit seinem Leben zufrieden war – aber das war eben nicht ihre Art. Sie wollte immer, dass ihre Umgebung sich wohlfühlte, auch wenn es ihr bisher noch selten gelungen war. Für ihre Eltern war sie ein steter Quell der Enttäuschung gewesen; sie hatte sich zwar immer bemüht, die elterlichen Erwartungen zu erfüllen, aber dazu hätte sie sich wohl schon in ihrer ersten Saison einen Herzog angeln müssen. Es war zwar überhaupt keiner verfügbar gewesen – entweder waren sie völlig senil und traten nicht mehr in der Öffentlichkeit auf, oder sie waren bereits vermählt – aber das tat den vorwurfsvollen Blicken ihrer Eltern keinen Abbruch. Sogar, als sie nach zwei Saisons und einem zu Hause vergeudeten Jahr doch noch wenigstens einen Earl vorweisen konnte, hatten ihre Eltern ein Gesicht gezogen, als habe sie damit ihr früheres Versagen nur äußerst notdürftig wieder gut gemacht. Sicher, den Earl hatten ihre Eltern ihr beschaffen müssen…
Nun, dass sie jetzt als Haushälterin arbeitete, wussten sie ja nicht. Für ihre Eltern war sie nach ihrem erneuten Versagen gestorben.
Was erzählten sie wohl den Nachbarn, wenn nach ihr gefragt wurde? Vielleicht pflegten sie sogar auf dem Besitz ein leeres Grab?
Nein, das war sogar für ihre aufstiegsversessenen Eltern zu viel. Ob sie Rosamund nun genauso peinigen würden? Allerdings war Rosamund blond und niedlich und würde wahrscheinlich auf dem Londoner Parkett viel schneller Erfolg haben also sie selbst, die groß und dünn war und unmodische dunkelbraune, obendrein nur leicht gelockte Haare hatte. Hellbraune Augen waren zurzeit auch nicht gerade de rigeur, alle Welt umschwärmte blauäugige Blondinen, vorzugsweise mit üppiger Mitgift. Nun, nicht weiter verwunderlich.
Weg mit diesen unnützen Gedanken! Sie machte sich auf die Suche nach Nancy und wies sie an, eine weitere Dienstbotenkammer vorzubereiten.
„Oh, Mrs. Warren, das freut mich aber!“, strahlte Nancy. „Diese kratzigen Handtücher waren richtig unangenehm, und erst das Bettzeug! Aber gab es für Seine Lordschaft denn keine bessere Wäsche? Der arme Herr!“
Eleanor lächelte. „Ich glaube, die beiden Waschfrauen haben da keinen großen Unterschied gemacht, sie haben überhaupt nichts gründlich genug ausgespült. Die Rückenschmerzen, du weißt ja…“
„Das hätte aber Ihre Vorgängerin auch schon rauskriegen können“, fand Nancy dann doch. „Aber die war ja sowieso seltsam. Ich glaube, die dachte wirklich, dass es hier spukt.“
„So ein Unsinn!“ Eleanor war empört, verzichtete aber taktvoll darauf, Nancy an ihre eigenen früheren Aussagen diesbezüglich zu erinnern.
„Ja, und einmal ist sie Seiner Lordschaft begegnet und davongelaufen, weil er doch diese Narbe hat und humpelt. Hinterher hat sie herumgekreischt, das sei der Gottseibeiuns – was soll das überhaupt heißen?“
„Der Teufel“, erklärte Eleanor zerstreut, „und was hat sie danach getan?“
„Na, ihre Sachen gepackt. Fort mit Schaden. Mr. Jessop hat Mr. Grant sofort an die Agentur schreiben lassen und das war wohl genau das Richtige.“
Eleanor lächelte. „Das ist nett von dir.“
Sie verließ das Schloss wieder und umrundete es im Park, um weiter über den Earl nachzudenken. Weit kam sie damit freilich nicht, denn ein hochgewachsener Mann in Reitkleidung kam ihr entgegen: „Sie müssen Mrs. Warren sein, der neue Besen?“
„Richtig. Aber Sie sind mir gegenüber im Vorteil, ich weiß nämlich nicht, wer Sie sind, Mr. - ?“
„Corbyn. Thomas Corbyn. Ich bin der Verwalter. Leider war ich jetzt einige Wochen lang nicht auf Kesham. Familiäre Gründe. Aber ich habe schon gehört, dass Sie allerlei Verbesserungsmaßnahmen durchführen. Seine Lordschaft hat das bereits erwähnt.“
„Oh – tatsächlich?“ Eleanor freute sich und wusste selbst nicht genau, warum eigentlich. Dass sie ihre Arbeit gut machte, wusste sie schließlich selbst. Aber dass der Earl es bemerkt hatte, war doch ein günstiges Zeichen?
„Das freut mich“, sagte sie also nur. „Wenn Sie noch Vorschläge haben, was man an Verbesserungen unternehmen könnte, lassen Sie es mich doch bitte wissen.“
Mr. Corbyn versprach dies und Eleanor verabschiedete sich mit dem Gefühl, dass ihr auf Kesham niemand übel gesonnen war. Nun, vielleicht außer Mr. Grant?
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