Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani
Stadt. "Liefland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwissenheit und eines angemaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei" schrieb Johann Gottfried Herder als Kolaborator der Domschule über das Riga des 18. Jahrhunderts, in der es sich die deutschbaltische Oberschicht mit kommunaler Selbstverwaltung gut gehen ließ, während sie die stadthörigen lettischen Hintersassen Mores lehrten. Erst im 19. Jahrhundert erwachte in der Auseinandersetzung mit den deutschbaltischen und russischen Oberschichten in den Städten ein lettisches Nationalbewusstsein, das unmittelbar nach der Gezeitenwende des Ersten Weltkrieg zur Gründung der ersten lettischen Republik führte. Während das benachbarte Russland im bolschewistischen Elend versank, wurde Riga innerhalb der kurzen und so trügerisch verheißungsvollen Zeit der "Goldenen Zwanziger" zu einem "Paris des Ostens", zu einem Kristallisationspunkt von Kultur, Individualität und Lebensart. In den Dreißiger Jahren, als sich die politische Großwetterlage bereits wieder zu verdunkeln begann, getraute man sich sogar, die große Monumentalstatue Zar Peters abzureißen und an ihrer statt am Ende des Kalkuleja-Boulevards eine vierzig Meter hohe Freiheitssäule zu errichten, auf deren Spitze "Mutter Heimat" als resolute baltische Mutter ihre drei Kinder in Gestalt von drei Sternen in den Himmel hob. Bei diesen drei Sternen handelte es sich nicht, wie viele Touristen mutmaßten, um die symbolische Darstellung Lettlands, Estlands und Litauens, sondern um die drei lettischen Regionen Kurzeme, Lettgalle und Vidzeme.
Mit der gerade erst gefeierten Freiheit Lettlands aber war es schon wenige Jahre nach der Errichtung der Freiheitsstatue auch schon wieder vorbei. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges brach eine nationale Existenzkrise über das Land herein, deren traumatische Spuren das nationale Selbstverständnis im Verhältnis zu Russland bis heute prägen. Die Letten nennen diese Zeit "die Epoche der Okkupation", und sie scheuen sich nicht, diese einundfünfzig Jahre der deutsch-russischen Fremdherrschaft zwischen 1940 bis 1991 in einer nach westlichen Maßstäben politisch höchst unkorrekten, aber durchaus nachvollziehbaren Parallelisierung zu dokumentieren. Denn im "Museum der Okkupation", das sich wie ein ästhetischer und moralischer Kontrapunkt gleich in der Nachbarschaft des so idyllisch restaurierten Marktplatzes befindet, waren die Sieger und Besiegten des 2. Weltkrieges nicht wie in den Nürnberger Prozesses fein säuberlich geschieden, sondern saßen als nationalsozialistische und kommunistische Variante eines modernen Mördertotalitarismus beide gleichermaßen auf der Anklagebank.
Die in mehreren Sprachen präsentierte Foto- und Dokumentenausstellung begann mit der Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes, in dessen geheimen Zusatzprotokoll sich die beiden Diktatoren über die Aufteilung Osteuropas verständigt hatten. Molotow und Ribbentrop grinsten auf großen Fotografien von den Wänden, und gleich nebenan sah man die Verzweiflung in den Gesichtern der Außenminister Lettlands, Estlands und Litauens, die im Frühjahr 1940 nach Moskau zitiert wurden, um die so genannten "Schutzverträge" zu unterzeichnen, die in Wahrheit nichts anderes bedeuteten als die bedingungslose Kapitulation vor der nackten Gewalt. Als die sowjetischen Truppen im Juni 1940 Lettland besetzten, begann die russische Geheimpolizei sofort mit Massenverhaftungen, Deportationen und Erschießungen aller nur irgendwie der Opposition verdächtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Eine Welle des Terrors schwappte über das Land, deren Wucht die schlimmsten Befürchtungen weit übertraf und von der das Ausland erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR erfahren sollte. Das nationale Leben stand still, die lettische Wirtschaft befand sich bereits im Stadium des Zusammenbruchs, als im Juni 1941 die deutsche Armee die UdSSR angriff und in der ersten Phase des Krieges der Roten Armee eine Serie scheinbar kriegsentscheidender Niederlagen zufügte. Hektographierte Dokumente belegten, dass die Russen noch während ihrer überstürzten Flucht aus Riga alle politischen Gefangenen systematisch erschossen, die einheimischen Juden jedoch an der Flucht nach Osten hinderten. Dann folgten die berüchtigten Bilder jubelnder Letten, die die einrückenden deutschen Truppen in Riga mit Blumensträußen begrüßten, Bilder, die die Russen bis auf den heutigen Tag als Beweis für die Kollaboration der Letten mit dem nationalsozialistischen Gewaltregime heranziehen.
Aber auch dieser Jubel währte nicht lange. Schnell wurde deutlich, dass die Deutschen die "nordischen" Letten zwar germanisieren wollten, dem Großteil des Volkes aber überwiegend dienende Funktionen zugedacht hatten. Die Verfügungsgewalt über ihre Heimat sollten die Letten auf jeden Fall verlieren. Auf den großen Plänen und Skizzen, die hinter Glas im Okkupationsmuseum aushingen, wurde deutlich, dass nicht weniger als 160.000 deutsche Siedler nach dem Ende eine siegreichen Weltkrieges in Lettland angesiedelt werden sollten. Die Ermordung der 70.000 lettischen Juden erschien dagegen nur als Teil der nationalen Leidensgeschichte - was der Ausstellung viel Kritik eingetragen hatte. Allerdings wurde der latente Antisemitismus der Letten in der Ausstellung keineswegs verschwiegen - heimlich aufgenommene Fotografien aus lettischen Gefängnissen zeigten, wie die Nationalsozialisten mit Eisenstangen bewaffnete lettische Kriminelle auf die jüdischen Inhaftierten hetzten, ein schreckliches Kapitel innerhalb der nationalen Tragödie, das im Museum nicht ausgespart wurde.
Das Schwergewicht der musealen Dokumentation beschäftigte sich aber mit dem für Lettland katastrophalen Ende des zweiten Weltkrieges. Hunderttausenden lettischer Männer, Frauen und Kindern, nicht weniger als 10 % der gesamten Bevölkerung gelang es, vor der herannahenden Roten Armee in den Jahren 1944 und 1945 nach Westen zu entkommen, wo sie später vorwiegend in den USA und Kanada eine neue Heimat fanden. 135.000 lettische Flüchtlinge aber wurden im letzten Kriegsjahr von der Roten Armee zusammen mit Restbeständen der deutschen Ostarmee im Westen Rigas in Kurland eingekesselt. Die Bilder an den Museumswänden zeigten Szenen eines dramatischen, aber letztlich vergeblichen Widerstandes, den die Rote Armee mit ihrer überlegenen Feuerkraft nieder walzte. Lettischen Flüchtlingen, denen die Flucht über die Ostsee nach Schweden gelang, erging es schlechter als den Vietnam-Deserteuren der Sechziger Jahre: sie wurden von den Schweden inhaftiert und an die Rote Armee ausgeliefert.
Folgte man der Darstellung der Museumsdidaktik, brach mit dem russischen Sieg eine lange Nacht über Lettland herein. Die westlichen Demokratien, die für die Freiheit Polens in den Krieg gezogen waren, überließen auf den Konferenzen von Teheran und Yalta dem totalitären Sowjetkommunismus leichter Hand die Beute, die er sich schon im Nichtangriffspakt mit Hitler-Deutschland gesichert hatte. Hatten die Nationalsozialisten in ihren Okkupationsplänen die Ansiedlung von 160.000 Deutschen in Lettland innerhalb von zwanzig Jahren geplant, kamen zwischen dem Ende des zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der UdSSR im Jahre 1991 nicht weniger als 840.000 Russen nach Lettland, ein Bevölkerungsimport, der die die Struktur des gesamten Landes bis in die Grundfesten veränderte.
Über die Art dieses Wandels gehen die Meinungen bis heute allerdings weit auseinander. In der Sichtweise der Russen wurde das Land nach 1945 mit Riesenschritten entwickelt, die Alphabetisierung ergriff endlich alle Teile der Bevölkerung, Straßen wurden gebaut, Häfen vergrößert, Eisenbahnlinien in Betrieb genommen, und zum ersten Mal entstand eine nennenswerte Industrie. Kein Wunder, dass die Russen die Letten für Schnorrer halten, für undankbare Wohnungsbesitzer, die sich ihre Bruchbuden haben renovieren lassen, um dann die selbstlosen Dienstleister unbezahlt aus dem Lande zu werfen. Für die Letten ist die Erinnerung an die Zeit der Sowjetherrschaft dagegen gleichbedeutend mit der Reminiszenz an ein nationales Desaster, bei dem Hunderttausende den spätstalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Es ist die Erinnerung an eine Zeit, in der die Welt immer mehr vergaß, dass es überhaupt noch Letten, Esten und Litauer gab, die sich von den Russen kulturell und weltanschaulich unterscheiden wollten. Die Letten haben bis heute nicht vergessen, dass in der so viel gepriesenen Friedens- und Entspannungspolitik der Siebziger Jahre mit keinem Wort von den unterdrückten Völkern Osteuropas und schon gar nicht von ihnen die Rede gewesen ist.
Umso größer war die Überraschung, als der wirkliche Zusammenbruch der UdSSR, stimuliert durch die Freiheitsbewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei vor dem Freiheitsdenkmal in Riga und dem Parlament von Wilna in einer Region Europas begann, die die europäischen Real- und Entspannungspolitiker niemals ernsthaft auf ihrem Radarschirm gehabt hatten. Vor einer staunenden Welt erhob sich in Riga, Wilna und Tallinn der so oft beschworene Wind des Wandels und trieb die russische Besatzungsarmee aus dem Land.
Aber nur die wenigsten erkannten im allgemeinen Jubel dieser glorreichen Tage, dass mit der Wiederkehr der Freiheit die Probleme keineswegs verschwunden waren. Denn unversehens waren über 750.000 Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung Lettlands, in ein staatsrechtliches Niemandsland