Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani

Die kleine Posaune der Freiheit - Ludwig Witzani


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russischen Minderheit bis heute die volle sprachliche Gleichberechtigung und verlangen von allen nach 1940 ins Land gekommenen Russen für die Ausstellung eines lettischen Passes die Ablegung eines lettischem Kulturexamens, was viele Russen, die schon seit dem Ende des 2. Weltkrieges im Lande leben, als Schikane verweigern. Auf der anderen Seite scheut sich auch die russische Regierung nicht davor zurück, die Rohstoffabhängigkeit Lettlands und die heute strittigen Grenzfragen als Druckmittel zu instrumentalisieren. Dass sich im Unterschied zum damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder die lettische Präsidentin ebenso wie viele andere osteuropäische Staatsoberhäupter weigerten, im Mai 2005 an den so genannten „Befreiungsfeiern“ in Moskau teilzunehmen, hat die Misshelligkeiten weiter angeheizt. Kein Wunder, dass der amerikanische Präsident Georg W. Bush umjubelt wurde, als er am Vorabend dieser russischen Siegesfeiern und unmittelbar vor seinem Moskaubesuch am 8. Mai 2005 einen Kranz am Freiheitsdenkmal in Riga niederlegte und zum Zorn des russischen Nachbarn die sowjetische Okkupation des Baltikums ausdrücklich verurteilte. Viele meinen, erst mit dieser Kranzniederlegung des amerikanischen Präsidenten am Freiheitsdenkmal sei die Stadt Riga wirklich frei geworden.

      *

       Erfahrene Sekretärinnen sagen, einen Chef erkennt man nicht unbedingt an seinem Büro, sondern an seinem Vorzimmer. Mit den Städten verhält es sich oft ebenso - ihr wirkliches Wesen tritt manchmal in den Vorstädten viel deutlicher zutage als in den Zentren. Um dies zu erkunden, lief ich vom kleinen Kanal, der die Altstadt begrenzte, die Kristina Valdemara und den Brivibas Bulvaris stadtauswärts, fuhr hier einige Stationen mit dem Bus, setzte mich hier und dort ein wenig auf die Bank, um mir die Umgebung einzuprägen und strolchte einfach aufs Geratewohl ziellos durch die Straßen. Es dauerte nicht lange, da verschwanden die Wäschereien, Supermärkte, Videotheken und Sexshops, um den eintönigen Plattenbauten Platz zu machen, die uns schon bei der Stadteinfahrt erschrocken hatten. Ich passierte graue Wohncontainer mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen, vermüllte Wiesen und Versammlungen alter Männer, die auf wackeligen Bänken vor ihren Hauseingängen saßen. Kinder und junge Frauen waren nur wenige zu sehen, immerhin gehört die Geburtenrate der baltischen Länder mit 0,9 Kindern pro Frau zu den niedrigsten der Erde, und ein Großteil der gut ausgebildeten jungen Frauen hat sich längst in den Westen aufgemacht. Viele der jungen Männer, die mir auf meinem Streifzug begegneten, waren also einsam, folglich trugen sie Muskelshirts und hatten den Schädel kahl rasiert. In ihrer typischen Erscheinungsform hielten sie in der rechten Hand eine Zigarette und mit in der Linken hantierten sie entweder an einem Handy oder massierten sich das Gemächt. Einige kamen mir in angetrunkenem Zustand entgegen und schauten mich an wie schwer angeschlagene Boxer, die im nächsten Augenblick k.o. gehen oder einen unberechenbaren Ausfall wagen würden.

       Am Ende eines solchen Streifzuges durch die Vorstädte verschlug es mich in das "Riga Motor Museum", ein großzügig ausgestattetes Oldtimermuseum, das nicht nur einen Überblick über die Geschichte des Automobils anbot, sondern auch den Werdegang einzelner Fahrzeuge dokumentierte. Der deutsche "Hansa G12/36" hatte etwa an der ersten Etappe eines Autorennens zwischen Berlin und Moskau teilgenommen, als seine Eigentümer vom Ausbruch des ersten Weltkrieges überrascht und kurzerhand verhaftet wurden. Ein im Jahre 1939 von einem Schlesier bei Rolls Royce in England bestellter "RR Wraine" wurde 1945 von der Roten Armee gleichsam als Beutekunst nach Moskau verfrachtet, wo ihn Stalin inspizierte und seinem Kumpanen Molotow schenkte, ehe das Gefährt Jahrzehnte später seine Laufbahn als landwirtschaftliches Transportgerät auf einer Kolchose beendete. Ein anderer "Rolls Royce Silver Shadow" war mit zerfetzter Vorderfront und einer blöde dreinblickenden Breschnew-Puppe im Fond als Erinnerung an einen Unfall ausgestellt, den der autovernarrte russische KP-Chef im Zustand der Volltrunkenheit verursacht hatte. Wer wollte, konnte auch die endlosen Oldtimerreihen wie eine Evolutionsgeschichte des modernen Automobilbaus betrachten. In der Darstellung des Riga Motor Museums begann alles mit dem Modell T von Ford, dessen spartanischer Innenraum noch heute jeden Besucher schockieren würde, und setzte sich fort mit den immer prachtvolleren Modellvarianten von Oldsmobile, Packard, BMW und Mercedes, die einen Trend zu immer dinosaurierhaften Größen belegten. In dem Maße, wie diese Fahrzeuge in den Städten der Welt dramatische Verkehrs- und Parkplatzprobleme verursachten, schrumpften sie wieder. Zuerst reduzierte sich der Umfang der protzig zur Schau gestellten Motorraumverschalungen, auch die Kofferräume wurden kleiner, während sich die Innenräume noch ein wenig ausdehnten. Größer wurden die Fenster, denn war man in den Ursprungstage des Automobilzeitalters abgeschirmt wie in einer Kutsche durch die Gegend gereist, so wollte man nun sehen und gesehen werden. Auch die Innenräume der Fahrzeuge demokratisierten sich, die Ausmaße der kleinen, durch Scheiben abgetrennten Vorderbänke, auf denen die Chauffeure die Wagen steuerten, und die wohnzimmerähnlichen Hinterbänke glichen sich in ihrem Raumvolumen an. Trennwände und Zwischenräume verschwanden, nun fuhren offensichtlich die Eigentümer ihre Pferdestärken selbst über Land. Gut zu sehen auch, dass alle zunächst außen befindlichen Wagenteile wie Hupen, Kupplungen, Starterschwengel zuerst zum Teil der Karosse wurden und alsbald ganz unter ihr verschwanden.

       Während meiner Rundgänge durch die Vorstädte hatte Stefan bei seinen Erkundungen im Stadtzentrum einige Bars entdeckt, in denen einheimische Frauen schon am frühen Abend mit dem "Bittesprichmichangesicht" herumsaßen. Zu seiner Erleichterung gab es also doch noch alleinstehende junge Frauen, die unbehelligt von westlichen Männern in der großen Stadt zuhause waren. So verschwand er allabendlich aus unserer schlauchförmigen Dependance im Stundenhotel, nicht ohne mir vorher seine Ausweise und Wertsachen zur Aufbewahrung übergeben zu haben. Ich blieb zurück, legte mich wie eine alte Frau mit einem Kissen unter den Ellbogen noch eine Stunde ans Fenster, um das Bahnhofsviertel und die Ablösung der Prostituierten in der Abenddämmerung zu beobachten, las dann ein wenig in Mankells "Hunde von Riga", bis mir das Buch aus den Händen fiel und ich einschlief.

       Was Stefan in lauen baltischen Nächten erlebte, wurde mir am nächsten Morgen brühwarm berichtet. Zuerst die gute Nachricht: bei den jungen Frauen, die Stefan in den Bars und Diskotheken ansprach, handelte es sich nicht nur um gebildete Damen, die fließend Englisch und oft auch ein hinreichendes Deutsch sprachen, sie waren nach seiner Auskunft auch immer gerne bereit, mit ihm in einen der zahlreichen Parks zu verschwinden. Schlecht allerdings war, dass diese Parks so hell erleuchtet waren, dass es diese gebildeten Mädchen aus natürlicher Scham nicht zum Äußersten kommen lassen wollten. Das war bitter, zumal sich Stefan bei der herrschenden Zimmerknappheit auch außerstande sah, auf die Schnelle ein Zimmer zu besorgen. Sprach´s und legte sich aufs Ohr, um bis in den tiefen Nachmittag zu schlafen.

      *

       Wieder schlug das Wetter um. Auf eine kurze Phase Sonnenschein folgte der baltische Dauerregen. Es goss zum Gotterbarmen, als wir im Busbahnhof von Riga ein Ticket nach Cesis erwarben, wo es eine der größten Burgruinen des Baltikums zu besichtigen gab. Die nassen Straßen spiegelten schon am Vormittag die entgegenkommenden Autolichter, die Dörfer links und rechts der Straße verschwanden im Regendunst, und die Wiesen glichen struppigen Frisuren, die immer aufs neue gewaschen, aber nie geföhnt wurden. Keine Landschaft strahlt, wenn die Sonne nicht scheint, aber im Nordosten Europas wabert eine intensive Tristesse über die Ebenen, sobald die Sonne verschwindet. Kein Wunder, dass es für die Deutschordensritter, die im 13. und 14. Jahrhundert das Baltikum zu großen Teilen erobert hatten, so schwierig gewesen war, Kolonisten aus dem sonnigen Zentraleuropas zu gewinnen. Es kamen nur Handwerker und Händler in die Städte und auch das nur in kleiner Zahl, während das flache Land in der Hand der lettischen Bauern blieb.

       In Cesis hatten alle Geschäfte geschlossen, die Rollladen waren heruntergezogen, die Türen verrammelt, und außer uns war niemand an der Bushaltestelle zu sehen. Auch die Burg von Cesis wollte niemand außer uns besuchen, so dass wir unter Dutzenden von Schutzhelmen und Öllampen wählen konnten, mit denen wir gut gesichert die Ruinen der Burg durchstreiften. Soweit sich heute noch erkennen ließ, musste es sich um eine bedeutende Festung gehandelt haben, eine Herrin und Bewacherin des Umlandes, bis sie wie so vieles von Iwan dem Schrecklichen und seinen Horden erobert und zerstört worden war. Danach wurde sie in kleinerem Umfang als eine Art Schloss wieder aufgebaut. Nun entstanden Teichanlagen, verspielte Treppen mit Tierallegorien und Putten, ehe das Anwesen in der sowjetischen Zeit wieder verfiel. Aber auch die Sowjetunion ist nun schon wieder Geschichte, nun fließt das Geld für die Restauration der Burganlage aus den Fördertöpfen der Europäischen Union - auch


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