Der Garten der Welt. Ludwig Witzani

Der Garten der Welt - Ludwig Witzani


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Goldenen Buddha zählte ich Dutzende Familien, die sich vor dem Goldenen Buddha versammelten, unbekümmert herumscherzten und sich dann umdrehten um sich, den Buddha gütig lächelnd im Hintergrund, gemeinsam ablichten zu lassen. Keine dieser Familien war ohne mindestens drei Kinder vor dem großen Buddha erschienen, meistens waren es mehr, und bei vielen war auch noch eine Großmutter mit von der Partie. Dem Augenschein nach waren die Besucher weder arm noch reich sondern völlig normale Thais, die in diesem Tempel das kostbarste präsentierten, was ihnen das Leben schenken konnte: ihre Kinder. An dieser Kostbarkeit herrscht in Thailand kein Mangel, im Gegenteil der Kinderreichtum des Landes hat sich zu einem seiner größten Probleme ausgewachsen. Aus den fünf Millionen Menschen, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Thailand lebten, waren zum Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zehn Millionen geworden. Im Jahre 1960 wurde die 25 Millionen-Marke überschritten, und nur 25 Jahre später hatte sich die Bevölkerung Thailands auf über 50 Millionen Menschen mehr als verdoppelt. Mittlerweile dürfte die Bevölkerung Thailands die Siebzig Millionen-Grenze erreicht haben.

       Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus von Phitsanulok nach New Sukothai und nahm von dort ein Tuk-Tuk, das mich zum Ruinenfeld von Old Sukothai brachte. Obwohl sich die Ruinen der alten Königsstadt über einen ausgedehnten Bezirk erstreckten, konnte man die beeindruckendsten Ruinen innerhalb eines fußläufig zugänglichen archäologischen Parks besichtigen. Dieser Sukothai-Park bestand aus gepflegten Rasenflächen mit künstlichen Seen und Inseln, die über kleine, chinesisch anmutende Brücken miteinander verbunden waren. Merkwürdigerweise war ich ganz alleine auf dem Ruinenfeld, und es herrschte eine Ruhe, wie ich sie bisher in Thailand noch nicht erlebt hatte. Die Umrisse der Landschaft verschwammen im Dunst der mittäglichen Hitze, nur Vogelgezwitscher war zu hören, als ich mich in den Schatten setze, um ein wenig über Sokothai zu lesen.

       Da die Einwanderung der Thai-Bevölkerung im 13. Jahrhundert immer mehr zunahm, wurde das Verhältnis zum Reich der Khmer zum Problem. Es kam zu Reibereien, ehe sich die örtlichen Thai-Stämme von Sukothai gegen die Khmer erhoben, die Besatzungstruppen davonjagten, um die Unabhängigkeit ihrer Stämme auszurufen. Nach der Genealogie der thailändischen Könige soll das im Jahre 1238 unter der Führung eines gewissen Sri Indradityas geschehen sein, dem die Legende als thailändischer Nationalheld zahlreiche mythische Züge andichtete.

       Wirklich in das Scheinwerferlicht der Geschichte traten die Thais aber erst mit Indradityas jüngerem Sohn Ramkhamhaeng, dem dritten König von Sukothai (1279-1299), den die Thais bis auf den heutigen Tag als Begründer ihrer Nation verehren. Ramkhamhaeng befestigte Sukothai und begann mit dem Bau großer Tempel- und Bewässerungsanlagen. In seiner Regierungszeit entstand die Thai-Schrift, die wie alle Schriften Südostasiens eine Mischung aus alphabetischer und Silbenschrift darstellt. Ramkhamhaeng erhob den ohnehin schon vorherrschenden Buddhismus zur Staatsreligion und förderte die Missionstätigkeit srialankesischer Mönche, die alle Winkel des Landes durchwanderten, um auch den letzten heidnischen Thai zu missionieren. Am Ende seines Lebens soll König Ramkhamhaeng höchst selbst eine Tributgesandtschaft nach China geführt haben, wo er vom Nachfolger Kubilai Khans empfangen und bestätigt wurde. Da fast gleichzeitig die Mongolen die benachbarte burmesische Metropole Pagan zerstörten und sich das Reich der Khmer im Niedergang befand, gelang es Ramkhamhaeng fast das gesamte heutige Thailand unter seiner Herrschaft zu einigen.

       Wenn die Herrlichkeit Sukothais auch kaum einhundert Jahre währte, wurde sie für die thailändische Kultur und Geschichte stilbildend. Aus dem Prang, dem Tempelturm der Khmer entwickelte sich der konisch zulaufende thailändische Tempelturm und schließlich die glockenförmige Chedi. Während im benachbarten Indien der Buddhismus unter den Schlägen islamischer Eroberer vernichtet wurde, erblühte er im Reich der Thai zu neuer Herrlichkeit. Nirgendwo in Asien gelangte die Figur des schreitenden Buddhas zu solch zauberhafter und filigraner Darstellung wie im Königspalast von Sukothai. Mehr schwebend als gehend scheint sich der schreitende Buddha über den Boden zu bewegen, vorbei an einer ganzen Galerie halbverfallener Säulen und einem überlebensgroßen Buddha an der Stirnseite des Tempels entgegen. Eine ganze Stunde saß ich im Schatten der Ruinen des Königspalastes und imaginierte die Bilder eines mittelalterlichen Reiches, seine turbulenten Alltagsszenen, die Ankunft der Heere, die die Khmer immer weiter nach Osten drängten, die Meditationen der srilankesischen Mönche und die Audienzen des Königs. Um mich herum blühte die Natur, Überreste zerfallener Skulpturen lagen im Unterholz, und ein Buddha Kopf mit der spitzen zulaufenden Krone der Erleuchtung auf dem Schädel ragte über den Rand der Bäume.

       Auch während meiner weiteren Erkundung des Ruinenfeldes von Sukothai begegnete ich überall Buddha- Skulpturen. Sie standen, schritten, saßen oder schliefen, geradeso als wolle der Erleuchtete jede nur mögliche Körperhaltung probeweise mit der Mediation in Verbindung bringen. Unvergesslich blieb mir der fast fünfzehn Meter hohe Riesenbuddha im Wat Su Chum, einer kolossalen Gestalt, die noch übermächtiger wirkte, weil sie in von einem engen Gemäuer umgeben war. Diese Einschnürung des monumentalen Buddha erschien mir wie ästhetischer Ausdruck dafür, dass die Lehre des Buddha die Grenzen des Menschlichen sprengt. Aus diesem Grunde bezeichnet sich der srilankesische Buddhismus, der sich in ganz Indochina außer in Vietnam durchsetzte, als das „kleine Fahrzeug“, weil er eingestand, dass seine Weltentsagung nur für eine kleine Zahl von Menschen lebbar war, wobei dem einfachen Gläubigen immerhin die Möglichkeit blieb, in der Verehrung dieser wenigen religiösen Virtuosen ebenfalls Verdienste zu erwerben. Der Mayahana-Budhdismus, der Buddhismus des „großen Fahrzeugs“, der die Lehre des Erleuchteten mit Millionen Geistern und Göttern anreicherte, entstammte einer späteren Epoche und verbreitete sich auf einem anderen, einem zentralasiatischen Weg über die Seidenstraße nach China.

       Am gleichen Abend kehrte ich nach Phithsanulok zurück und spazierte über den Nachtmarkt. Träge floss der Nan River unterhalb der Böschung nach Süden, große Hügel voller abgeholzter Bäume warten am Ufer auf ihren Abtransport. Die anhebende Dämmerung warf ihren Schatten über den Fluss, und an den Essenständen herrschte bereits Andrang. Viele thailändische Familien absolvierten ihren Abendspaziergang, auch Männergruppen, aber nur wenige Touristen waren unterwegs. Hoch schlug die Stichflamme aus den Pfannen der Garköche, die Speck, Bohnen, Fleisch, Fisch und allerlei undefinierbares Gemüse zum Kochen brachten. Erstaunlich viele Prostituierte standen im Halbschatten der Seitenstraßen und warteten auf Kundschaft, einige von ihnen von erschütternder Kindhaftigkeit. Obwohl Prostitution in Thailand offiziell verboten ist, gehört ihr Anblick zum festen Bestandteil des thailändischen Alltags. Längst hat sich die käufliche Liebe zu einem der größten Wirtschaftszweige des Landes entwickelt, nachgefragt nicht nur von westlichen Touristen in Bangkok oder Pattaya sondern massenhaft auch von der einheimischen Männerwelt in der thailändischen Provinz. Als ich mich in einer Garküche biederließ und ein Fischgericht bestellte, konnte ich beobachten, wie die Kontaktaufnahme zwischen Prostituierten und Freier ablief. Männern wie Frauen schienen die Verhandlungen peinlich zu sein, gerade so, als beherrsche sie eine Aversion gegenüber dem, was sie taten. Trotzdem wurde man sich schnell handelseinig und verschwand im Schatten einer Gasse. Der unbedarfte westliche Besucher, der so etwas zum ersten Mal erblickt, ist leicht geneigt, dieses Geschehen nach einem weitverbreiteten Standardklischee zu beurteilen, in dem Gut und Böse fein säuberlich getrennt sind. Danach prostituieren sich die hungernden Frauen aus purer Not, aus Hunger oder um ihre Familien zu ernähren. Nichts könnte falscher sein. Thailand ist kein reiches Land, und auch wenn die Lebensbedingungen unvergleichlich viel härter sind als in Europa oder Amerika, verhungert niemand mehr in Siam. Die Wahrheit ist viel prosaischer. Wer sich in Thailand prostituiert, will einfach schneller und leichter Geld verdienen, als dies für junge Frauen auf den Reisfeldern der in der Fabrik möglich ist. Dass diese Pläne dann oft nicht aufgehen, und dass die jungen Frauen schnell in das Räderwerk krimineller Zuhälterstrukturen geraten, ist dann wieder eine ganz andere Geschichte.

       Der Bus brachte mich am nächsten Tag in einer fünfstündigen Fahrt von Phitsanulok aus zuerst nach Nakhim Sawan, dann über Ang Thong bis nach Ayutthaya, das sich nur noch eine gute Busstunde von Bangkok entfernt befindet. Um Treibstoff zu sparen, stellte der Busfahrer die Klimaanlage des Busses aus und behauptete, als die Fahrgäste protestierten, sie sei defekt. Jedermann riss die Fenster auf, doch nur um heiße Luft in den Bus zu lassen, der mit der Gewalt eines heißen Föhnstrahls durch die Reihen fegte. Als ich den Bus in Ayutthaya verließ, umgab mich die


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