Usbekisches Reisetagebuch. Ludwig Witzani
Amir war hungrig. Zweitens: Max Webers Diktum vom Nebeneinander widerstreitender Werte im Alltagsleben fiel mir ein, jenes opportunistische Wertegewurschtel, ohne das ein erträgliches soziales Leben überhaupt nicht möglich ist. Fundamentalist sein, hieß wahrscheinlich, die obersten Werte zu einhundert Prozent in sein Alltagsleben zu übertragen. Liberal sein hieß, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, Schweinefleisch zu essen, wenn ich hungrig war und zu Allah beten, wenn ich Beistand brauchte.
Auf dem Bazar von Taschkent liefen uns die Schwarzmarkthändler hinterher, doch noch ehe ich hören konnte, welche Kurse sie uns anboten, drängte uns Amir weiter. „Das sind Halunken und Räuber, die betrügen die Touristen“, sagte er mit besorgter Miene. Der Halunke war er, weil er auf diese Weise verhinderte, dass wir den wirklichen Schwarzmarktkurs erfuhren.
Der Bazar von Taschkent fand in einer großen überdachten Halle statt Alles war sauber und geordnet, bunt waren nur die Gewänder der Frauen. Unangenehm war die Bettelei der Zigeunerinnen, die plötzlich an einen herantraten, einen am Arm ergriffen und mit Nachdruck ein Backschisch forderten. Ihre Gesichter waren hart und verschlagen, Zurückweisungen nahmen sie nicht ernst und setzten einem weiter zu, bis man sich von ihnen losriss. In der ganzen Welt hatte ich immer wieder solche Erfahrungen mit Zigeunern gemacht, aber wehe, man erwähnte sie, dann drohte ein Shitstorm sondergleichen. In einer Unterführung saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt und schrie wie am Spieß, welche Not sie leide. Es war eine Zigeunerin, und man hatte ihr zur Optimierung ihres Auftritts ein Zigeuner-Baby in den Arm gelegt, das wohl nur mit Betäubung das stundenlange Gekreische des Mädchens ertragen konnte. „Zigeuner sind faul“, sagte Amir. „Außer Timur hat sie niemals jemand zum Arbeiten gebracht, noch nicht einmal die Kommunisten.“
Mittagessen im Al-Aziz, einem der schönsten Lokale von Taschkent. Wir orderten je eine Portion Lagnam, ein usbekisches Nudelgericht, das es als Suppe wie als Spaghetti gab, tranken den schmackhaften grünen Tee und genossen den strahlend blauer Himmel. Die Temperaturen waren frühlingshaft, was aber beileibe nicht immer so sei, wie Amir anmerkte. Im Winter fiele das Thermometer auf minus 60 Grad, und im Sommer seien es fünfzig Grad plus. Hitzefrei gäbe es bei 40 Grad plus, was aber praktisch niemals vorkäme, weil die Medien immer nur 39 Grad meldeten. Ähnlich hätten sich die Medien 1966 beim großen Erdbeben in Taschkent verhalten. Obwohl Tausende dem Beben zum Opfer gefallen waren, wurde offiziell nur ein Toter gemeldet. Aber das sei letztlich alles bedeutungslos, fuhr Amir fort, denn ganz egal wie heiß es im Sommer werde oder wie oft die Erde bebe, alles in allem seien die Usbeken mit dem Regiment von Präsident Karimov zufrieden, denn er garantiere das Wichtigste von allem: Stabilität und Frieden. Amir selbst profitierte sogar in besonderer Weise vom Karimov-System, denn jeden Herbst hatte er als Deutsch-Lehrer einen ganzen Monat frei, weil in dieser Zeit die Jugend zur Baumwollernte zwangsverpflichtet wurde.
Nicht weit vom Al Aziz Restaurant befand sich das Erdbebenmonument, eine Skulpturengruppe im Stil des sozialistischen Realismus. Auf einem aufbrechenden Boden bäumen sich ein Mann, eine Frau und ein Kind auf, erschrocken, heldisch und zugleich hilflos, die Hände vorgestreckt, als sich die Erde öffnet.
Peter Scholl Latour kommt in seinem Buch „Schlachtfeld der Zukunft“ auf den Beginn der usbekisch-russischen Konflikte zu sprechen, die am Ende der Sowjetzeit immer virulenter wurden. Seiner Ansicht nach hätten Russen und Usbeken lange Zeit relativ friedlich nebeneinander hergelebt, weil sie räumlich getrennt waren. Es existierten zwei Parallelgesellschaften ohne intensivere Berührungspunkte, so dass die tagtäglichen Konflikte ausblieben. Das änderte sich durch das große Erdbeben des Jahres 1966 in Taschkent. Die nach der Zerstörung der Stadt massenhaft neu erbauten Wohnungen wurden an Russen und Usbeken gleichermaßen vergeben, so dass die beiden Ethnien nun viel enger zusammenrückten. Fremdheit, Aversion und schließlich Mord und Totschlag waren die Folge. Was bedeutete dieses Faktum für das Konfliktpotenzial in heterogenen Gesellschaften? Nicht die Aufhebung von Parallelgesellschaften, sondern ihre räumlich separierte Existenz garantierte ein Mindestmaß an sozialem Frieden.
Erdbeben-Monument in Taschkent
Im Jahre 1966 wurde aus Anlass des 660. Todestag des Mongolenfürsten Timur (1336-1405) das Timuriden-Museum in Samarkand eröffnet. Dieses Museum verherrlichte einen Völkerschlächters, der in seinem langen, bluttriefenden Leben nicht weniger als eine Million Menschen hat ermorden, erschlagen, verbrennen, verschütten oder enthaupten lassen. Keiner wusste, was Präsident Karimov geritten hatte, als er Timur zum Nationalhelden erhoben hatte. Vielleicht hatte er es getan, weil er selbst so ein Schlächter ist, mutmaßten seine Gegner. Nein, er hat es getan, weil er weiß, dass jedes Land eine ruhmreiche Geschichte braucht, widersprachen seine Anhänger.
Wie immer es sich auch verhalten mochte, im Timuridenmuseum erscheint der welterobernde Mongolenfürst als Vater des Vaterlandes, als Kulturschöpfer, der mit seiner Beute die Städte Transoxaniens ausbauen und zu aller Nutzen Kanäle anlegen ließ. Eine riesige Eingangshalle empfängt den Besucher, ein gewaltiger Leuchter hängt von der Decke, so schwer und groß, dass ich darauf achtete, nicht unter ihm zu stehen zu kommen. Bunte Bilder im Mogulstil befanden sich an den Wänden, meterhoch wurde die glorreiche Vergangenheit illustriert, gemalt wurden die Bilder natürlich in der Gegenwart.
Der Tag klang aus mit einem Besuch des Unabhängigkeitsplatzes von Taschkent. Früher stand hier einmal die größte Leninstatue der Welt, nach der Ausrufung der usbekischen Unabhängigkeit war sie durch eine große Weltkugel ersetzt worden. „Lenin hat ein Ei gelegt, “ kommentieren die Einheimischen diese Veränderung. Eine steinerne Mutter mit Kind, die an eine christliche Pieta erinnerte und doch nur eine fruchtbare Usbekin darstellen sollte, saß pflichtbewusst und fruchtbar unter der Weltkugel und hielt einen kleinen Usbeken im Arm. Der Unabhängigkeitsplatz wurde begrenzt durch eine stilisierte Säulengalerie, auf deren Giebel sich große Störchen aus glänzendem Blech befanden, möglicherweise weil die Zahl der wirklichen Störche in Usbekistan dramatisch zurückgeht.
Ein Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt, erzählte uns in der U-Bahn von ihrem Vater in Moskau und ihrer Mutter in New York. Sie war ausgesprochen hübsch und mit dem natürlichen Charme einer kleinen Prinzessin begabt. Wie eine kleine Lady stand sie in ihrer Schuluniform vor uns und behauptete, in Taschkent ihre Großeltern zu besuchen. Die U-Bahnstation selbst kam mir gespenstisch vor, überambitioniert, leer, wie kurz vor dem Ende aller Tage.
Taschkent ist grün und weitflächig, voller Parks und Menschen, die sich aber mit ausreichendem Abstand über das Gelände verteilten. Die meisten Passanten geben sich freundlich und gelassen. Nur ein bulliger Mensch blickte mich in der U-Bahn mit unverhohlener Feindseligkeit an. Ich erschrak und prüfte mich, ob ich etwas Unziemliches gesagt hatte oder falsch angezogen war. Nein, ich konnte nichts entdecken. Die furchterregende Gestalt, die mich hasserfüllt fixierte. war völlig untypisch für die ansonsten so freundlichen Usbeken. Würde ich seinen Anblick als letzten Eindruck mit in den Tod nehmen, weil er gleich seine Bombe auspacken und mir an den Kopf werfen würde? Dazu kam es gottlob nicht, denn an der nächsten Station erhob er sich und stieg aus. Ich weiß nicht wieso, aber in diesem Augenblick war ich mir sicher: mit ihm würde es kein gutes Ende nehmen.
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