Stirb endlich Alter. Georg Christian Braun

Stirb endlich Alter - Georg Christian Braun


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just in dem Moment anders sein. Er versuchte, Renate auf deren Handy zu erreichen, sie blockte ab. Und fuhr an den Straßenrand, weil sie merkte, wie sie mit ihren Nerven am Ende war. Sie ließ ihre Tränen zu und stieg nicht aus dem Auto aus. Ein alleingelassenes Fahrzeug würde am ehesten die Aufmerksamkeit erregen. Man kannte sie auch im zehn Kilometer entfernten Sieblach, wo sie momentan stand. Renate atmete tief durch und öffnete das Fenster, damit frische Luft reinkommen konnte. Sie wurde sich selbst fremd. Sie erfüllte gewohnheitsmäßig, was von ihr erwartet wurde, das empfand sie bis gestern als richtig und notwendig. Allmählich dämmerte ihr, wie wertlos sie sich selbst vorkam, von anderen nichts zu verlangen. Wer nichts wollte, bekam auch nichts. Verkaufte das Leben unter Wert. Damit sollte Schluss ein. Für immer. Roland und die anderen würden nach und nach kapieren, welchen Wert sie für die Familie eingenommen hatte. Sie beruhigte sich allmählich und fühlte sich an den Moment erinnert, in dem sie entschied, ihr Leben ohne Roland und Franz weiter zu führen. Der Gedanke, den unerträglich gewordenen Schwiegervater und den unsolidarischen Ehemann los zu sein, erwärmte ihr Empfinden. Die Entscheidung war vor einem Tag richtig gewesen. Sie hatte Energie getankt und voller Kraft die Koffer gepackt. warum jetzt alles verflogen? Weil sie die Gegenwehr Rolands und der Kinder fürchtete? Die plante sie ein. Weil sie durch den Wegzug gegen die Dorfmoral verstieß? Die war ihr egal. Es war das Geständnis, schwach zu sein. Sie, die immer ihre Aufgaben akkurat und zufriedenstellend erledigte versagte plötzlich. Sie war am Ende der Kräfte. Dieses Eingeständnis war ehrlich und richtig. Und deswegen fasste sie erneut den Mut, zu ihrer Schwester zu fahren und sich von nichts und niemand beirren zu lassen. Denn, »ja« zu seinen Stärken und Schwächen zu sagen, bedeutet eine liebevolle Selbstannahme. Und die kann unter keinen Umständen falsch und verwerflich sein. Nachdem die Tränen weggewischt, die Nase geputzt war, ließ sie den Motor an und fuhr weiter nach Happbach, wo Marianne wohnte. Fünfzehn Kilometer von Hebelbach entfernt. Bei ihrer Schwester traf sie auf eine anfangs verständnisvolle Beschützerin. Sie baute sie zunächst auf und gab ihr Rückhalt. Vor Roland. Der hatte Respekt vor Marianne, die ihn schon das eine oder andere Mal in den Senkel gestellt und ihm gedroht hatte, ihn der Pflegekasse zu melden, weil er Geld einstrich und den Vater übel behandelte. Statt ins Krankenhaus zu verlegen, rief er den Rettungsdienst. Aus Angst vor den pharisäischen Geschwistern, denen er Erbsenzählerei unterstellte, was der Begriff »Pflege bis zum Tod« anbelangte. Mit Marianne war nicht gut Kirschen essen, das wusste Roland. Trotzdem fuhr er hin. Wegen Renate, der einstigen Liebe seines Lebens.

       Kapitel 3

      Annika kam von der Schule nach Hause mit einer interessanten Hausaufgabe. Roland arbeitete noch im Wald. Für die Erledigung der Aufgabe benötigte sie ihren Vater händeringend.

      »Papa, wann kommst du heim? », fühlte Annika per WhatsApp vor.

      »Wenn ich fertig bin. Kann spät werden. » Das passte der Schülerin absolut nicht in den Kram. Einmal bräuchte sie Roland für Schularbeiten und dann sägt er im Wald Bäume.

      »Mama, hast du Zeit für ein paar Fragen? »

      »Ich hole dich ab. Dann stehe ich dir zur Verfügung. » Eine knappe Viertelstunde verging und Renate hupte vor dem Haus. Die Kleine packte die Fragen und einen Block mit Schreibzeug in ihre Umhängetasche, zog ihre rehbraune Lederjacke an und kämmte das lockige Haar zurecht.

      »Hallo, Mama, schön, dass du Zeit für mich hast. »

      »Wir fahren in den Löwen. Dort können wir ungestört reden und nebenher die Aufgaben machen. »

      Die beiden bestellten ihre Lieblingsgetränke. Annika Eistee mit Zitronen- und Maracujageschmack, Renate einen karamellisierten Cappuccino mit Schokostreuseln. Die Tränensäcke Renates verrieten einen unterdurchschnittlichen Schlaf, außerdem einen tränenreichen Kampf. Das Mädchen reagierte ein wenig erschrocken, wollte den Schrecken unterdrücken, was ihr misslang.

      »Ja, Annika, ich habe viel geweint. Oder meinst du, mein Wegzug fiel mir leicht? » Unsicher nahm das Mädchen einen Schluck aus dem mittlerweile servierten Eistee, ehe sie antwortete:

      »Ich glaube, du hast mit deiner Aktion mehr Chaos angerichtet. » Renate wollte zur Gegenantwort ansetzen, Annika fiel ihr ins Wort: »Die Sache musst du mit Papa klären. Ich brauche jemand, der mir die Geschichte von Franz erzählen kann. »

      »He, wieso brauchst du die Lebensstory des alten Stinkers? » Renates Gesicht lief rot an. So wütend war sie.

      »Mama, bitte: Opa ist wichtig für mich, auch wenn du ihn nicht leiden kannst.«

      Renate schluckte zweimal, schaute auf den Boden und fragte:

      »Was ist eure genaue Aufgabe?«, fragte sie Annika zu ihrer Irritierung.

      »Wir müssen die Geschichte eines alten Menschen aufschreiben, der uns vertraut ist. Da fiel mir Opa ein. Geschichtshausi.«

      »Ich kann nur das erzählen, was ich von deinem Vater, Franz persönlich und den anderen Verwandten noch in Erinnerung habe. Garantieren kann ich für nichts. »

      »Ich habe ein paar Fragen, okay? »

      »Schieß los. »

      »In welchem Jahr wurde Franz geboren? »

      »1937.«

      »Was passierte in dem Jahr? »

      »Nichts Besonderes. Hitler bereitete den Zweiten Weltkrieg vor. Aber für Opa hatte der Krieg kam Auswirkungen. Er wurde in einen Bauernhof hineingeboren und hatte immer genug zu essen. »

      »Wo besuchte er die Schule? »

      »In Hebelbach. Die gesamte Schulzeit. »

      »Was weißt du noch über seine Erlebnisse in der Schule? »

      »Er hatte einen sehr strengen Lehrer, den alten Kürner. Wenn Franz mal nicht gespurt hatte oder eine falsche Antwort gab, schlug Kürner zu. »

      »Tat das weh? »

      »Eine Ohrfeige mit dem Handrücken? Schläge mit dem Eisenstock? Mädchen, du stellst Fragen. »

      Annika fiel in eine ungewöhnliche und tiefe Nachdenklichkeit. Sie hatte ihre Fragen für einen Augenblick auf Eis gelegt und dachte nach. Wie Franz in der Schule leiden musste. Wenn er eine falsche Antwort gegeben hatte. Sie überlegte, wie viele Schläge sie eingesteckt hätte, wenn sie zur Zeit ihres Großvaters die Schule besucht hätte. Da hatte sie es richtig gut. Sie wurde nie geschlagen, das durften ihre Lehrer nicht. Ein wenig meinte sie, man könnte Franz besser verstehen. In seiner Grobheit. Er gab nur weiter, was er persönlich erlebt hatte.

      »Was hatte Opa eigentlich gelernt? »

      »Schlosser, hier in der Metallfabrik. Nach dem Krieg wurden alle Kräfte für den Wiederaufbau Deutschlands benötigt. Deshalb konnte er mit dreizehn Jahren die Schule verlassen und eine Ausbildung anfangen. »

      »So früh? Dann müsste ich in einem Jahr auch eine Ausbildung beginnen. Ich fühl mich viel zu jung dafür. »

      »Keine Angst. Das musst du nicht. »

      Renate wirkte geistesabwesend. Annika fragte nicht mehr. Sie entschied für sich, den Rest der Fragen an ihren Vater zu stellen. Was die Beziehungen von Franz anging, würde Roland wahrscheinlich besser Bescheid wissen.

      Renate kämpfte. Mit sich, den Gefühlen, den Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Die Fragen Annikas setzten unkontrolliert Emotionen frei, die auf eine Verarbeitung warteten.

      »Hast du noch Fragen? Wenn nein, würde ich gerne zahlen und dich nach Hause fahren. »

      »Nein«, log Annika. Sie verließen gemeinsam das Lokal und beide kämpften mit eigenen Gefühlen. Jede für sich alleine und beide fühlten messerscharf die persönliche Einsamkeit.

      Roland wartete auf Annika. Seine Rückkehr erfolgte früher als gedacht. Ein Auftrag wurde storniert, so dass Roland schon eher Feierabend machen konnte. Irritiert blickte er in traurige Augen, als er Renate und Annika im Auto vor der Türe sah.

      »Hattet ihr einen schönen Mittag? », fragte er eifersüchtig.

      »Du


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