Fatale Manipulation. Duri Rungger
Mit seiner noch geringen Erfahrung waren seine Aussichten, eine feste Forschungsstelle oder gar Professur zu erhalten minimal. Vielleicht hätte sich ein medizinisches Forschungslabor oder die Pharmaindustrie für seine Technik interessiert. Doch dort bestand die Gefahr, dass ein Projekt von einem Tag zum anderen abgesetzt wurde, weil es zu langsam voranging oder im Betrieb andere Schwerpunkte gesetzt wurden. Zudem wollte er schon immer seine Forschung selbständig planen und durchführen. Die einzige Möglichkeit, dies trotz seines Asthmas zu verwirklichen, bestand darin, ein Start-up zu gründen, in dem er das Sagen hatte.
Sutter war schon immer ein Mann der schnellen Entschlüsse gewesen. Er gab seinen Posten in England auf, kehrte nach Zürich zurück und verbrachte einige Monate damit, Patentanwälten und Industriechefs seine Idee aufzutischen und Sponsoren zu suchen. Die 140'000 Franken Bundesfördergeld reichten knapp aus, um die Vermittler zu bezahlen, und er war nahe daran aufzugeben. Da überraschte ihn sein Anwalt mit der Ankündigung, ein privater Investor sei bereit, drei Millionen zu investieren – ohne Auflagen zur Arbeitsweise, aber gegen einen saftigen Anteil an eventuellen Gewinnen oder am Übernahmepreis durch eine Grossfirma.
Während er sein Start-up einrichtete, erkrankte sein Vater und starb wenige Monate danach. Als früherer Besitzer einer kleinen Fabrik für Präzisionsinstrumente hatte er ein stattliches Vermögen angehäuft, das nun an seinen Sohn überging. Neben der Villa am Zürichberg, in der Sutter jetzt wohnte, gehörte auch das inzwischen leerstehende Fabrikgebäude an der Viaduktstrasse zur Erbmasse. Dieses war ideal dazu geeignet, ein Forschungslabor samt abgesonderten Tierställen darin unterzubringen. So stand der Gründung seiner Firma «KOKI» nichts mehr im Weg. Sutter zog die Brauen hoch. Die Bezeichnung «KOKI» klang selbst nach drei Jahren noch seltsam in seinen Ohren und er wunderte sich, dass bis heute keiner versuchte hatte, Coca-Cola bei ihnen zu bestellen. Aber so ausgefallen er auch war, der Name war zutreffend. KO und KI standen für knock-out, knock-in, die gängigen Bezeichnungen für das Ausschalten und Einfügen eines Gens im Erbgut der lebenden Zelle. Die Auswahl an möglichen Firmenbezeichnungen war sowieso nicht gross gewesen. Namen, die ihm lieber gewesen wären, wie Genetec, Medtech, Transgene, Newgene, Genecorr und viele mehr, waren bereits durch andere Firmen besetzt.
Wie bei jeder Forschung ging die Arbeit langsamer voran als erhofft. Sutter hatte nicht erwartet, nach so kurzer Zeit bereits Gewinne zu erzielen, aber auch nicht vorausgesehen, dass die vorhandenen Mittel so rasch dahinschwinden würden. Die läppischen drei Millionen Anfangskapital waren mit der Einrichtung des Labors, dem Ankauf von Apparaten, Enzymen und Chemikalien sehr rasch geschrumpft. Die Löhne für zwei Wissenschaftler, einen Techniker, der auch die Tiere betreute, und eine engagierte Sekretärin, die halbtags bezahlt wurde, aber ganztags arbeitete, hatten den Rest besorgt. Seit einigen Monaten bezahlte er die Leute und das Verbrauchsmaterial aus dem ererbten Vermögen.
Sein Patent für das Transportprotein lag nun seit zehn Monaten beim europäischen Patentamt und mittlerweile wurde der Recherchebericht erstellt. Wenn das Verfahren weitergehen sollte, musste er bald die weitere Prüfung beantragen und das kostete. Die Suche nach einer neuen Finanzierung war, neben dem wissenschaftlichen Interesse, ein weiterer Grund den Kongress zu besuchen, an dem viele Investoren, private Marktanalysten, sowie Planungsbeauftragte und Direktoren der pharmazeutischen Grossfirmen teilnahmen.
Sutter schaute auf die Uhr. Es war erst halb drei. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und versuchte zu schlafen, fuhr aber gleich wieder hoch, als die anderen ungelösten Probleme in seinem Kopf aufstiegen. Eines davon war seine Ehe mit Eva. Er hatte die viel umworbene Prinzessin des Zürcher Nachtlebens vor zwei Jahren geheiratet. Ihre Vermählung war sogar der NZZ ein Bildchen in der Klatschspalte der Sonntagsbeilage «Gesellschaft» wert gewesen. Er hatte Evita, wie sie sich gerne nannte, im Zürcher Nachtleben kennengelernt. Sie flirtete mit vielen, unterhielt aber keine dauerhafte Beziehung und hatte sich ihren Beinamen «Prinzessin-eine-Nacht» redlich verdient. Plötzlich kannte sie nur noch ihn und eh er es sich versah, standen sie vor dem Standesbeamten. Anfänglich verlief ihr Zusammensein glücklich. Doch als er begann, private Mittel in die Firma zu stecken, verschlechterte sich die Beziehung zusehends. Inzwischen war er zur bitteren Erkenntnis gelangt, dass Evita ihn nur heiraten wollte, weil er ein ansehnliches Vermögen geerbt hatte. Sie musste dies aus einer der Klatschspalten erfahren haben, die sie bevorzugte.
Letzte Woche war es zum Eklat gekommen. Als er sie bat, ihren Kaufrausch ein wenig zu zügeln, hatte sie ihn nur verächtlich angesehen und am Tag danach triumphierend ein halbes Dutzend Einkaufstaschen der teuersten Geschäfte der Stadt auf seinen Schreibtisch geknallt, worauf er umgehend ihre Kreditkarte sperren liess. Seither sprach sie nur noch davon, wie teuer ihn die Scheidung zu stehen kommen werde.
Mit einem Seufzer stieg er vom Bett. Er durfte sich nicht stundenlang mit solch düsteren Gedanken quälen, sonst drehte er durch. Ein kleiner Spaziergang würde ihm guttun. Er bummelte vom Messeplatz die Clarastrasse hinunter zum Rhein. Es war nicht viel los an diesem Montag. Viele Geschäfte blieben den ganzen Tag geschlossen und von vorweihnachtlicher Hektik war nichts zu spüren, auch wenn die Schaufenster mit Kerzen, Kugeln und anderem Krimskrams bereits weihnachtlich geschmückt waren – sechs Wochen vor Weihnachten. Die amerikanisch angehauchten Weihnachtsmänner passten überhaupt nicht zum aussergewöhnlich warmen Wetter und hätten sich in ihren dicken roten Pelerinen bestimmt zu Tode geschwitzt, wenn sie nicht aus Plastik gewesen wären.
Auf der Brücke blieb Sutter stehen, schaute lange in den Rhein und konnte seine Sorgen langsam verdrängen. Erleichtert stieg er durch den Rheinsprung zum Münsterplatz hoch, bestellte im «Zum Isaak» einen Kaffee und las in der Zeitung. Dann wurde es Zeit, ins Hotel zurückzukehren und sich zurechtzumachen. Die Eröffnung fand im noblen Hotel Les Trois Rois etwas unterhalb der Rheinbrücke statt. Im Vorbeigehen bereute Sutter ein wenig, seinen Stadtbummel nicht gleich in Schale gemacht zu haben. Das hätte ihm erspart, nochmals die ganze Clarastrasse hinauf- und hinunterzugehen.
2 Kongressgeflüster
Als Sutter aus dem Lift in die Eingangshalle des Hotels Hyperion trat, waren dort zahlreiche Kongressteilnehmer versammelt, wie aus dem Logo auf ihren Namensschildern ersichtlich war. Die Frauen hatten sich schön gemacht und die meisten Männer trugen Anzug und Krawatte. Im Vergleich zu einem Kongress für Mediziner, an denen vor allem die mit teurem Schmuck behangenen Begleiterinnen versuchten, sich gegenseitig auszustechen, hielt sich der Aufwand in Grenzen. Die anwesenden Investoren kreuzten zu diesem Anlass in eher legeren Tenues auf und die Wissenschaftler konnten sich sowieso keine Massanzüge leisten. Einige ältere Semester mit wildem Haarwuchs waren wohl Molekularbiologen. Die Studenten, die bei ihnen standen, trugen abgetragene Jeans und ausgelatschte Sneakers. Sutter musterte den Rest der Versammlung, entdeckte aber niemanden, den er kannte. So ging er zielbewusst auf den Ausgang zu. Wie wenn sie auf dieses Signal gewartet hätte, folgte ihm die versammelte Menge.
Während die Prozession den Messeplatz überquerte, amüsierte Sutter sich über die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, die ihm folgte, und trotzdem waren alle diese Kongresse ähnlich. Leute, die sich bereits kannten oder soeben erst herausgefunden hatten, dass sie auf demselben Gebiet arbeiteten, diskutierten angefressen über technische Details der genetischen Rekombination, stritten sich darüber, ob in Zellkulturen gewonnene Resultate vertrauenswürdig seien, oder gaben sich Tipps, welche Quelle von CRISPR am preisgünstigsten und doch zuverlässig sei. Andere begnügten sich mit Spekulationen darüber, wie lange wohl die Begrüssungsansprache dauern würde und was es danach zu essen gebe. Unmittelbar hinter Sutter schrie ein Amerikaner in sein Handy und erkundigte sich bei seinen Leuten, was auf dem Dia zu sehen sei, das ihm heute per E-Mail zugestellt worden war – und was zum Teufel er in seinem Talk dazu sagen könne. Das war wohl einer dieser eingefleischten Kongresspilger, der seit Wochen nicht mehr in seinem Institut gewesen war und endlich wieder ein neues Resultat in seinen Vortrag einbauen wollte, den er schon dreimal unverändert vorgetragen hatte. Die Erklärung schien kompliziert zu sein, denn der Mann blieb stehen und suchte in seiner Tasche nach einem Kugelschreiber.
An seiner Stelle schlossen zwei Männer mittleren Alters zu Sutter auf und dieser hörte einen Teil des Gesprächs mit: «Ich habe gerade erfahren, dass wieder eines der Start-ups, in das ich investiert habe, Pleite gemacht hat. Das ist bereits das vierte Mal, dass ich meinem Geld auf Nimmerwiedersehen