Die Namenlosen. Уилки Коллинз
Garth zu erwähnen, bevor diese Vermutungen nicht bestätigt waren – und jetzt schreckte sie mit noch größerem Widerwillen vor dem Gedanken zurück, ihre Töchter könnten sich ihretwegen in irgendeiner Weise beunruhigen. Es sei am besten, das Thema erst einmal ruhen zu lassen und voller Hoffnung abzuwarten, bis der Sommer kam. Vorerst vertraute sie darauf, dass sie alle am Dreiundzwanzigsten des Monats wieder vereint sein würden, dem Tag, den Mr. Vanstone für ihre Rückreise festgelegt hatte. Mit dieser Andeutung und den üblichen Grüßen war der Brief ganz plötzlich und verworren zu Ende.
Während der ersten Minuten nachdem Miss Garth den Brief aus der Hand gelegt hatte, war eine natürliche Sympathie für Mrs. Vanstone das einzige Gefühl, dessen sie sich bewusst war. Es dauerte aber nicht lange, da erhob sich in ihrem Geist undeutlich ein Zweifel, der sie verwirrte und bekümmerte. War die Erklärung, die sie gerade gelesen hatte, wirklich so befriedigend und vollständig, wie sie zu sein vorgab? Überprüfte man sie an den schlichten Tatsachen, sicher nicht.
Am Morgen ihrer Abreise hatte Mrs. Vanstone das Haus fraglos in guter Stimmung verlassen. War eine gute Stimmung bei ihrem Gesundheitszustand und in ihrem Alter mit einem Arztbesuch wie dem vereinbar, den sie zu unternehmen im Begriff stand? Und hatte nicht jener Brief aus New Orleans, der Mr. Vanstones Abreise notwendig gemacht hatte, auch einen Anteil daran, seine Frau ebenfalls zur Abreise zu veranlassen? Warum hätte sie sonst so aufmerksam aufblicken sollen, als ihre Tochter den Poststempel erwähnte? Selbst wenn man ihr den angegebenen Beweggrund für die Reise zugestand – ließen nicht ihr Betragen an dem Morgen, als der Brief geöffnet wurde, und dann auch wieder am Morgen ihrer Abreise auf die Existenz eines anderen Beweggrundes schließen, der in dem heutigen Schreiben ungenannt geblieben war?
Wenn es so war, ergab sich daraus eine höchst erschütternde Schlussfolgerung. Mrs. Vanstone hatte in dem Gefühl, es ihrer langjährigen Freundschaft mit Miss Garth schuldig zu sein, offensichtlich bei einem Thema das vollste Vertrauen in sie gesetzt, um gleichzeitig bei einem anderen auf unverdächtige Weise strengste Zurückhaltung zu üben. Miss Garth, die von Natur aus in ihren eigenen Angelegenheiten stets aufrichtig und geradlinig war, zuckte davor zurück, ihre Zweifel bis zu diesem Ergebnis weiter zu treiben: Indem sie in ihren Geist auch nur heraufdämmerten, schienen sie einen Mangel an Loyalität gegenüber ihrer bewährten, geschätzten Freundin zu beinhalten.
Sie schloss den Brief in ihrem Schreibtisch ein, erhob sich energisch, um ihre Aufmerksamkeit auf die flüchtigen Aufgaben des Tages zu lenken, und ging wieder hinunter ins Frühstückszimmer. Inmitten der vielen Unsicherheiten war zumindest eines klar: Mr. und Mrs. Vanstone würden am Dreiundzwanzigsten des Monats zurückkommen. Wer mochte sagen, welche neuen Offenbarungen sie mitbringen würden?
Kapitel 4
Sie brachten keine neuen Offenbarungen mit: Keine Erwartung, die sich mit ihrer Rückkehr verbunden hatte, erfüllte sich. Was das verbotene Thema ihrer Besorgung in London anging, trat weder beim Herrn noch bei der Dame des Hauses eine Veränderung ein. Was ihr Vorhaben auch gewesen sein mochte, sie hatten es allem Anschein nach erfolgreich bewältigt, denn beide kehrten im Vollbesitz ihres alltäglichen Aussehens und Verhaltens zurück. Mrs. Vanstones Stimmung war auf ihr natürliches, ruhiges Niveau zurückgegangen; Mr. Vanstones unbeirrbare Fröhlichkeit zeigte sich so leicht und selbstverständlich wie üblich. Das war die einzige wahrnehmbare Folge ihrer Reise – mehr nicht. Hatte der häusliche Aufruhr bereits seinen Lauf genommen? War das bisher verborgene Geheimnis undurchdringlich und für immer verborgen?
Nichts in dieser Welt ist für immer verborgen. Das Gold, das Jahrhunderte unbemerkt in der Erde gelegen hat, offenbart sich eines Tages an der Oberfläche. Sand wird zum Verräter und gibt Auskunft über den Fuß, der auf ihm gegangen ist; Wasser gibt der sichtbaren Oberfläche den Körper dessen wieder, der ertrunken ist. Selbst das Feuer hinterlässt in der Asche das Geständnis, welche Substanz von ihm verzehrt wurde. Hass bricht durch das Tor der Augen aus seinem Geheimgefängnis in den Gedanken aus; und Liebe findet den Judas, der sie mit einem Kuss verrät. Wir können blicken, wohin wir wollen: Das unausweichliche Gesetz der Offenbarung ist ein Gesetz der Natur. Die dauerhafte Bewahrung eines Geheimnisses ist ein Wunder, welches die Welt noch nie gesehen hat.
Und das Geheimnis, das jetzt in dem Haushalt von Combe-Raven verborgen lag? Auf welche Weise war es dazu verdammt, ans Licht zu kommen? Durch welches bevorstehende Ereignis im täglichen Leben von Vater, Mutter und Töchtern sollte das Gesetz der Offenbarung den fatalen Weg zur Aufdeckung finden? Der Weg eröffnete sich (ungesehen von den Eltern, unerwartet von den Kindern) durch das erste Ereignis, das sich nach Mr. und Mrs. Vanstones Rückkehr abspielte – ein Ereignis, das auf den ersten Blick von keinem wichtigeren Interesse sein sollte als die banale gesellschaftliche Zeremonie eines morgendlichen Besuches.
Drei Tage nachdem der Herr und die Herrin von Combe-Raven zurückgekehrt waren, saßen die weiblichen Familienmitglieder zufällig gerade zusammen im Frühstückszimmer. Aus den Fenstern eröffnete sich der Blick über den Blumen- und Sträuchergarten; letzterer war an seinem äußersten Rand durch einen Zaun geschützt, und von dem Weg dahinter erreichte man ihn durch ein Gartentor. Während einer Gesprächspause wurde die Aufmerksamkeit der Damen plötzlich durch das scharfe Geräusch des eisernen Riegels, der in seine Halterung fiel, auf dieses Tor gelenkt. Jemand war von dem Fahrweg in den Sträuchergarten getreten; Magdalen postierte sich sofort am Fenster, um durch die Bäume einen ersten Blick auf den Besucher zu erhaschen.
Nach einigen Minuten wurde an der Stelle, wo der von Sträuchern gesäumte Weg sich mit dem gewundenen Gartenpfad vereinigte, die Gestalt eines Gentleman sichtbar. Magdalen betrachtete ihn aufmerksam und anfangs offenbar ohne zu wissen, wer er war. Als er aber näher kam, sprang sie erstaunt auf, wandte sich schnell zu ihrer Mutter und Schwester, und erklärte, der Gentleman im Garten sei kein anderer als „Mr. Francis Clare“.
Der so angekündigte Besucher war der Sohn von Mr. Vanstones ältestem Gesellschafter und nächsten Nachbarn.
Mr. Clare der Ältere bewohnte ein unscheinbares kleines Cottage unmittelbar außerhalb des Gartenzauns, der die Grenze der Ländereien von Combe-Raven kennzeichnete. Er gehörte zum jüngeren Zweig einer sehr alten Familie, aber das einzige nennenswerte Erbe, das er von seinen Vorfahren erhalten hatte, war eine großartige Bibliothek, die nicht nur alle Zimmer seiner bescheidenen kleinen Behausung einnahm, sondern auch die Treppenhäuser und Korridore. Mr. Clares Bücher stellten das einzige bedeutsame Interesse in Mr. Clares Leben dar. Er war schon seit vielen Jahren Witwer und machte kein Geheimnis aus seiner philosophischen Resignation über den Tod seiner Frau. Als Vater betrachtete er seine Familie aus drei Söhnen im Licht eines notwendigen häuslichen Übels, welches ständig die Unantastbarkeit seines Studierzimmers und die Sicherheit seiner Bücher bedrohte. Wenn die Jungen in die Schule gingen, sagte Mr. Clare „Auf Wiedersehen“ zu ihnen und „Gott sei Dank“ zu sich selbst. Wie sein kleines Einkommen und seine noch kleinere häusliche Umgebung, so betrachtet er auch sie aus dem gleichen satirisch-gleichgültigen Blickwinkel. Sich selbst bezeichnete er als Almosenempfänger mit Stammbaum. Die gesamte Leitung seines Haushalts hatte er einer schlampigen alten Frau übertragen, die sei einziger Dienstbote war, und dabei hatte er nur die Bedingung gestellt, dass sie sich während des ganzen Jahres nie mit dem Staubwedel seinen Büchern nähern durfte. Seine Lieblingsdichter waren Horaz und Pope; die Philosophen seiner Wahl waren Hobbes und Voltaire. Körperliche Betätigung und frische Luft ließ er sich nur unter Protest angedeihen; dabei ging er stets auf der hässlichsten Landstraße der ganzen Gegend die gleiche Strecke bis zu einem Gatter. Er war krumm im Rücken und hitzig im Gemüt. Er konnte Radieschen verdauen und nach grünem Tee schlafen. Seine Ansichten über die Natur des Menschen waren die Ansichten eines Diogenes, abgemildert durch Rochefoucauld; in seinen persönlichen Gewohnheiten war er in höchstem Maße nachlässig; und am liebsten prahlte er damit, er habe alle menschlichen Vorurteile überlebt.
So war er, dieser einzigartige Mann, was seine vordergründigeren Eigenschaften anging. Welche edleren Qualitäten er vielleicht unter der Oberfläche besaß, hatte nie jemand herausgefunden. Mr. Vanstone behauptete zwar steif und fest, Mr. Clares schlimmste Seite sei seine Außenseite, aber mit dieser Meinungsäußerung stand er unter seinen Nachbarn allein. Die Verbindung zwischen den beiden höchst ungleichen Männern hatte schon viele Jahre überdauert und war fast so eng, dass man von Freundschaft sprechen konnte.