Flat Friedrich. Serge Elia Lomi

Flat Friedrich - Serge Elia Lomi


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war die Wucht. Jedes Mal haute er mich um mit seinen Beobachtungen und Ansichten. Manchmal fragte ich mich, nur so zum Zeitvertreib und weil er derartige Spekulationen durch sein blitzgescheites Wesen geradezu herausforderte, was eines schönen Tages aus ihm werden würde. Er hatte das Talent, einem Depressiven den bereits genau durchdachten Selbstmord auszureden und ihn stattdessen dazu zu bewegen, einen Marsch auf Rom zu unternehmen, um dort dafür zu streiten, neuer Papst zu werden. Durch Nick ließ man sich besser in keine Diskussion verstricken.

      Es kam mir höchst gelegen, dass in diesem Moment meine Frau um die Ecke gebogen kam, mit fliegendem Haar und einem Ausdruck im Gesicht, der mich an manche Gemälde von Francis Bacon erinnerte.

      „Meine Ablöse, endlich! Hast dir aber Zeit gelassen! Noch ´n Bier gekippt?“

      Ich blickte auf die Uhr. Meine Frau hatte Recht. Tatsächlich war ich drei Stationen früher aus der überfüllten Schwebebahn gestiegen, da ich so sehr an die Wand gedrängt worden war, dass ich plötzlich meinen linken Arm und mein rechtes Bein vermisst hatte. Der Spaziergang, auf dem ich fündig geworden war und in einer flüchtigen Inventur alle meine Gliedmaßen durchgezählt hatte, war belebend gewesen, hatte mich aber auch eine gute halbe Stunde meiner Zeit gekostet. Eine halbe Stunde Vaterzeit, Familienzeit.

      Da meine Frau schon immer der misstrauische Typ war und ich keine Lust auf Diskussionen hatte, entschied ich mich dafür, ihr eine Lüge aufzutischen, da sie mir die Wahrheit ohnehin nicht abkaufen würde. Auch wenn ich so um die übliche Moralpredigt nicht herumkam, es war immer noch der einfachste Weg.

      „Ja“, hörte ich mich sagen, und meine Stimme klang dabei so fern, als handelte es sich bei ihr um Staub vom Mars. „Hab mir noch zwei Bier genehmigt. Mit Mr. Lonesome. Hat uns zum Dinner eingeladen.“

      „Was?“

      „Wir haben eine Einladung zum Dinner.“

      „Na toll! Ist ja wieder typisch! Für wen hältst du mich eigentlich? Während du dich in irgendeinem Striplokal vergnügst, sitze ich hier mit den Kindern und sehe dabei zu, wie sich meine Nerven in Luft auflösen! Geht es dir noch gut?“

      „Wer hat was von Striplokal gesagt?“

      Meine Frau besaß die herausragende Eigenschaft, aus einer Mücke eine Rakete zu machen. (Nach unserer Hochzeitszeremonie war sie den Dostojewski-Boulevard auf und ab gelaufen wie ein kopfloses Huhn. Sie hatte ihren Ehering, der mir aus dem längst vergangenen Reichtum meiner Familie zugefallen war, jedem ins Gesicht gehalten, der sich nicht rechtzeitig in Deckung hatte bringen können. Der aus Weißgold gefertigte Ring mit dem prunkvollen Diamanten in Form einer Rose hatte seinen Duft unter zahllosen fremden Nasen verströmt – ach, herrliche, verlorene Zeit!)

      „Ach so! Wo hast du denn das Bier bitteschön getrunken? In der Kirche, oder was?“

      Ich seufzte und gab mich geschlagen. „Okay“, sagte ich, „ertappt! Wir waren im Striplokal.“ Ich hatte keine Lust auf Diskussionen, und meiner Frau gefiel es, moralisch auf einer höheren Ebene zu wandeln. Hauptsache, sie konnte mich maßregeln. Hauptsache, ich war ihr am Ende des Tages etwas schuldig.

      „Siehst du! Siehst du!“ sagte sie, und der Triumph in ihrer Stimme klang wie ein Peitschenhieb auf nackter Haut. Ihr blondes lockiges Haar, in das sich zunehmend aschgraue Kringel mischten, hüpfte auf ihrem Schädel wie ein tollwütiger Pudel. Ich glaubte sogar, seine Schnauze zu sehen, die im Takt des Wahnsinns für Sekundenbruchteile vorschnellte, um mir zähnefletschend zu bedeuten, auf Abstand zu gehen. Rücksichtsvoller Pudel, braves Hündchen.

      Meine Frau begann ihren Vortrag, den ich gekonnt ausblendete. In jahrelanger Übung war ich darin zum Meister gereift.

      Nick war in seinem Zimmer verschwunden; die ständigen Vorhaltungen meiner Frau ödeten ihn wohl auch allmählich an. Ich schlich ihm hinterher, während mir meine Frau wie ein lästiges Anhängsel folgte. Das Keifen ihrer Stimme gehörte inzwischen genauso zu unserer Wohnung wie das stete Brummen unserer TV-Wall; ein Defekt, den wir noch nicht hatten reparieren lassen, da das nötige Kleingeld für das Trinkgeld des Technikers fehlte.

      Nick kauerte auf seinem Bett, und gerade, als ich sein Zimmer betrat, sprang er mir mit einem Salto vorwärts entgegen. Nicht nur geistig war er ein talentiertes Kerlchen. Ich fand, dass er ganz nach seinem Vater kam. Und musste zugeben, dass ich eindeutig zu wenig aus meinen Möglichkeiten gemacht hatte.

      Sein Zimmer allerdings war ein Ort, in dem man leicht den Überblick verlor. Hier riskierte man Hals- und Beinbruch. Vielleicht stand hinter dem Durcheinander ja irgendein geheimer Sinn, eine Ordnung, die sich mir nicht erschloss, aber oberflächlich betrachtet – und andere Betrachtungsweisen hatte ich nicht auf dem Kasten – war es das reinste Chaos. Instinktiv, wie immer, wenn ich dieses Zimmer betrat, das dem Genie vielleicht auch etwas zu klein geworden war, begann ich Gegenstände aufzuklauben, um sie sogleich in irgendwelchen Kisten verschwinden zu lassen.

      „Nick, wie sieht es denn hier wieder aus!“ Ich war bemüht, meiner Stimme väterliche Strenge zu verleihen, sah aber, dass die Wirkung zu wünschen übrig ließ.

      „Wie immer!“ sagte Nick frech, sprang aus dem Stand etwa 2 Meter in die Luft und drehte sich dreimal um die eigene Achse.

      Mir blieb die Spucke weg. „Das ist ... äh ... das ist aber nicht gut!“

      Mein Blick streifte die in seinen Regalen aufgereihten Pokale, die er bei Schachturnieren, Turnwettbewerben und Intelligenzmeisterschaften eingeheimst hatte. Einige Pokale fanden sich auch unter Bergen alter Wäsche, die hier und dort verteilt waren. Das Blinken und Blitzen der Trophäen erweckte jedes Mal die Sanftmut in mir. Ich konnte ihm einfach nicht böse sein.

      „Was ist nicht gut?“ fragte Nick und mimte den Begriffsstutzigen. Diese Verkörperung eines geistig Zurückgebliebenen lag ihm ebenso wie der fünffache Flaubert-Jump-Slide (irgend so ein Modesprung; jedes Mal, wenn ich ihn sah, wurde mir schwindelig, und ich hätte Schwierigkeiten gehabt, sein Bewegungsmuster aufzuzeichnen; sein Erfinder, ein 17jähriger halbwüchsiger Franzose, meinte, er wirke „so vollendet wie ein Satz aus der Feder des großen Flaubert“). In einer meiner zahlreichen Zukunftsprojektionen verdiente Nick sein Geld in Hollywood; er konnte einem zweifellos alles vorgaukeln, und man musste ganz schön auf der Hut sein, um ihm nicht auf den Leim zu gehen.

      „Du verstehst mich ganz gut“, hörte ich mich sagen. „Diese Unordnung! Aus dir soll doch mal was werden?“

      „Ich hab gestern ´n Penner gesehen. Saß auf einer Bank im Park, trank aus einer Flasche und machte ´n ganz zufriedenes Gesicht. Dabei sehe ich viele Leute, aus denen was geworden ist, wie man so schön sagt, deren Mundwinkel hängen so tief, dass sie Maulwürfen den Weg versperren.“

      „Was?“

      „Einfach ausgedrückt, Dad: Ich sehe nicht ein, warum ich es zu etwas bringen soll, wenn ich am Ende doch nicht glücklich darüber werde.“

      „Was?“

      „Und außerdem: In einer Raketenfabrik kann ich doch jederzeit anheuern! Dafür muss ich doch nicht mein Zimmer aufräumen!“

      Es gab so einige Züge an meinem Sohn, die mich an meine Frau erinnerten. Letztere trat nun zwischen mich und Nick. Ihr Gesicht war gerötet und aufgequollen, wie ein Pudding, den man nicht rechtzeitig vom Herd genommen hat. Ihre Augen, in denen ich in guten Stunden das Schimmern des Ozeans erkannte, waren geweitet, und jetzt meinte ich in ihnen das tiefe Schwarz des Weltalls wahrzunehmen. Tatsächlich hatte ich sie für einen Moment vergessen, sie links liegengelassen und mich abgewendet, wie man sich von einer nicht allzu spannenden Fernsehtransmission abwendet, und jetzt erhielt ich die Quittung dafür.

      „Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“ fragte sie und bekam wieder dieses hektische Zucken um den linken Mundwinkel. Das war mein Alarmsignal. Es hieß: Obacht, alter Knabe! Treib es nicht zu weit!

      „Ich höre dich gut“, sagte ich.

      „Ach ja? Dann wiederhol doch mal, was ich gesagt habe!“

      Ich konnte Wort für Wort wiedergeben. Stolz war ich nicht darauf. Es stellte ebenso wenig


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