Annisas Flügel. Martin E. Greil

Annisas Flügel - Martin E. Greil


Скачать книгу
es sei gut von mir, das zu tun. Die Kinder von der Straße zu holen sei eine barmherzige Sache.“ Er nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Bierflasche.

      „Was soll das jetzt?“

      „Ich weiss du willst ein Kind. Ich will es doch auch für uns. Für dich würde ich alles tun, was in meiner Macht steht. Sind sie nicht süss?“

      „Sie sind schwarz. Ja, sie sind süss, aber schwarz. In unserem Dorf? Kannst du dir das vorstellen? Die Grubers, die Vietnamesen adoptierten, weisst du, wie schwer die Kinder es hatten? Da sieht man auf tausend Meter, dass die nicht ihre sind. Die da sind schwarz. Das wäre das gleiche.“

      „Schau sie doch an“, meint sie.

      „Das sind die liebsten Kinder die ich je gesehen hab. Sie haben eine Geschichte zu erzählen, dass muss ich zugeben. Aber wir können eine Familie sein. Hier würden sie nur sterben. Die Gangs würden sie ausnutzen und zum arbeiten nötigen. Dann, wenn sie älter sind werden sie zur Prostitution gezwungen. Das, hier, in dem Vorort der Stadt, ist ihr Todesurteil. Noch bevor sie zwanzig sind, werden sie an Krankheiten sterben wenn sie nicht vorher von einem europäischen Sextouristen erschlagen werden. Wir haben doch wirklich von allem alles. Es fehlt uns an nichts. Wir haben genug Geld um aus unserem Leben, mit den Kindern, eine Familie zu machen.“

      „Aber sie sind schwarz!“ sagt er noch einmal, bevor er einen letzten Schluck aus seiner Flaschen nimmt.

      „Komm jetzt, schick die Kinder, ich bin müde. Ich geh schlafen.“ Martin Boeremann verlässt sichtlich genervt den Raum. Sie sagt den Kindern, dass alles gut wird und er sie sehr gerne möge. Die Haushälterin hilft ihr bei der Übersetzung. Dann geht sie auch nach oben, während die Haushälterin die Kinder in ihre Zimmer bringt.

      Der Traum des Bauern von den Ratten, den Reichen und dem System

      In jener Nacht regnet es. Jede Nacht um diese Zeit regnet es sehr viel. Der Regen spült den ganzen Dreck der Straßen hinunter in die Kanalisation. Unter dem Gehweg sammelt sich alles, was durch die Schlitze der Gullys passt. Eine wahre Schlachtpartie für die ganzen Ratten, die in der Unterwelt der Stadt ihre Zelte aufgeschlagen haben. Hier brodelt das Leben wie in der Pappstadt. Dicht gedrängt, rennen sie auf und ab, um den einen oder anderen verrottenden Leckerbissen zu erhaschen. Es sind viele von ihnen. Viel essbarer Dreck wird jeden Abend vom Regen zu den Ratten gespült. Man könnte meinen das die Ratten mit dem Regen eine Abmachung haben.

      Der Regen ist Europa und verteilt die Reste. Die Straßen sind Afrika. Die verwesten Essensreste kommen vom Bauern.

      Nein die Ratten sind nicht die Armen Afrikas. Die Ratten sind die Reichen, die mit dem ungeniessbaren Essen nochmals Gewinn machen. Dazwischen irgendwo liegen natürlich die Armen. Die braucht es, um die Reichen reicher zu machen. Das Schmiermittel, welches das Rädchen der Maschine am Laufen hält, ist die unterste Schicht. Hier gibt es ein perfektes System. Wehe dem, der aus der Rolle tanzen will. Wehe dem, der von unten her das System blockieren oder nach oben will. Wer unten ist, muss unten bleiben, ob er will oder nicht. Denn unten muss Unten sein, damit es ein gesundes Oben gibt. Ohne ein gesundes Oben kann das Unten eh nicht existieren. Darum ist es wichtig, sich an all diese Regeln zu halten. Die oben sind klug. Sie kennen Möglichkeiten, die Situation immer in das Gleichgewicht zu bringen. Das es manchmal vorkommt, dass einer von unten seinen Platz verlässt, ist leider nicht zu verhindern. Jeder will nach oben.

      Wenn der Revoluzzer die erste Zeit alleine überlebt, ist es vielleicht möglich, nach oben zu kommen. Wahrscheinlicher aber wird er mit den Fischen schwimmen, bevor er überhaupt seine Forderungen stellen kann. Die oben wollen das nicht. Jeder hat seinen Platz. Verlässt du ihn, dein Risiko. Schaffst du es, ein bisschen nach oben zu kommen gibt es eine Bedingung an die sich jeder hält. >Die unter sich unten zu halten<. Der, der aufsteigt und seine Familie könnten dann in einem kleinen Wohlstand leben. Natürlich nur ein wenig besser. Zuviel braucht es dann auch wieder nicht. Es sind ja meistens sehr ungebildete Leute. Gewalttätig, bereit, alles zu riskieren, um aufzusteigen. Hauptsache heraus aus den Zahnrädchen der Mühlen, welche sie unten hält. Niemand verlässt das Hamsterrad. Auch wenn sie glauben, sie haben sich befreit, sind sie immer noch gefangen.

      Der Bauer erwacht aus seinem Traum. Er dreht sich vom Rücken zur Seite und schläft wieder ein.

      Die Auslese

      Annisa freut sich, dass nicht mehr in der Pappstadt leben muss. Sie hasst die Menschen dort. Es stinkt fürchterlich. Zuhause im Dorf lebte sie gerne. Aber nicht in der Pappstadt.

      „Wieso hat sich alles so verändert?“ fragt sie sich oft. Als kleines Kind war sie glücklich in ihrem Heimatdorf. Die Eltern haben sie in die Pappstadt gebracht. Das konnte sie ihnen nicht verzeihen. Sie hatten sich verändert, die Eltern. Alles drehte sich nur noch um das Geld. Alle wollten ganz viel Geld verdienen. Keiner spielte mehr mit ihr. Gut ist, dass die weiße Frau mit ihr spielt. Sie hat ihr die Haare gekämmt. Ihr ein neues Kleid gekauft. Sogar Schuhe hat sie bekommen. Sie vermisst Elli, den Bruder. Der Bruder weiss, wo sie ist. Er hat alles gesehen. Er versteckte sich, als die Frau kam. Dem Vater würde er nie etwas davon erzählen. Der Bruder liebt die große Stadt auch. Er hasst die Pappstadt genau so wie Annisa. Ob er wohl in die Pappstadt zurück gegangen ist, der Bruder? Doch im Moment ist ihr alles egal. Sie sieht aus dem Fenster in ihrem Zimmer. Die Lichter der Unterstadt leuchten hell wie Sterne am Himmel. Hier ist es besser für sie. Kein Heimweh plagt ihren jungen Geist. Es war ihr nicht klar, was die Frau mit dem weissen Mann geredet hat. Die Sprache, welche sie benutzten, kannte sie nicht. Ausser >Wie heisst du?< die Frage nach ihrem Namen, hat sie nichts verstanden. Er scheint nicht sehr freundlich zu sein, der Mann. Aber die Frau mit den blonden Haaren ist für sie wie eine Person aus einer der Geschichten, welche Grossmutter ihnen immer erzählt hatte. Ein guter Geist.

      Kani, Hemd mit Hose, verstand die Welt nicht mehr. Er prügelte den Sohn windelweich. Schrie ihn an. Zerrte ihn an den Haaren, aber nichts. Der Junge sagte, sie sei verloren gegangen. Er wisse nicht, wo. Er habe sie aus den Augen verloren. Der Vater war zornig und verärgert darüber, die Kinder mit in die Stadt genommen zu haben. Die Mutter schrie und weinte. Doch es nützte nichts. Sie mussten weiter machen. Der Vater brauchte die Büchsen. So schickte Kani den Sohn, als Strafe, wieder zum Müllplatz. Als der Sohn die ersten Papphütten hinter sich gelassen hatte, verließ er seinen Weg und ging in Richtung Stadt. Er dachte nicht daran, dem Vater zu gehorchen. Er hatte genug von dieser Pappstadt-Welt, in der er leben musste. Mit seinen zehn Jahren dachte er, dass der weisse Mann nur Unheil über sein Dorf gebracht hatte. Irgendwie wollte er das ändern.

      Die Lichter gehen langsam aus. Die Nacht weicht dem Tag. Die ständige Geräuschkulisse der Stadt beginnt ihren täglichen Rhythmus zu finden. Das Gezwitscher der Morgenvögel wird unsanft von den Motorgeräuschen der Autos, welche sich in die Stadt bewegen, verdrängt. Gegen sechs Uhr am Morgen erwacht Martin Boeremann. An den Lärm muss er sich noch gewöhnen. Zuhause gibt es nur die Klänge der Büchsenfabrik. Er liebt diese Geräusche. Mit jeder Büchse hat Martin zwanzig Cent mehr auf dem Konto. Das ist Musik für seine Ohren. Klick, Klick, Klick. Das Bimmeln der Kuhglocken seiner Kälber auf der Weide ist ihm nicht so sympathisch. Aber auch für die bekommt er Geld von der Union. Zwanzig Kühe, da kann eine kleine Familie schon davon leben. Das überlässt er aber dem Vater. Für Martin zählt nur Leistung. Das Abrechnen am Ende des Monats gibt ihm den Kick, das Suchtpotential für ihn in sich trägt. Langsam dreht er sich weg vom Fenster. Er beobachtet seine Frau. Sie schläft noch tief und atmet langsam. Mit Schönheit konnte er nie etwas anfangen, dennoch ist sie die Schönste im Dorf. Für ihn muss eine Frau arbeiten, kochen und Mutter sein. Seine Frau ist keine Mutter. Sie ist klug. Seine Freunde im Schwarzwald meinen, wie viel Glück er doch hatte, solch eine Frau zu finden. Die Freunde. Das Dorf. Der Vater. Die Kirche. Der Bürgermeister. Die Arbeiter. Das Finanzamt. Mit all denen konnte er umgehen. Verhandeln. Einen Deal machen. Gewinn für sich herausschlagen. Seine Frau, sie war anderes. Sie war gut zu ihm. Sein Vater wollte sie nicht, weil sie anders war. Er aber brauchte sie. Das andere. Die Einzige, die es wagt, ihm zu widersprechen. Dem Sohn des alten Bauern widerspricht man nicht. Man ist für ihn oder bald mal weg vom Fenster. Er kann


Скачать книгу