David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill
sein, denkt sie. Das Urmel aus dem Eis ist ihr noch gegenwärtig. Vielleicht hat er unter den Dingen im Schrank etwas entdeckt, was ihn an das Urmel im Eis erinnert. Vielleicht aber heißt auch jemand aus der Nähe des Kindes Ursel. Die kleinen Finger tasten über den Kuchen, klauben eines der Augenplätzchen heraus und führen es seltsam ängstlich an die Lippen. Das Zucken des Körpers entgeht ihr nicht, dabei hat sie noch keinen Ton gesagt und schon gar keinen, der ein Zucken verursachen könnte. Doch sie muss mit ihm reden, sonst traut er sich nichts.
»Das darfst du essen. Und die Milch darfst du trinken. Sie ist schön warm. Du frierst doch, nicht wahr? «
Das zweite der beiden Augenplätzchen steckt schon bald zwischen den blassen Lippen, die noch einmal das Wort entlassen, was jetzt viel deutlicher nach Ursel klingt. »Ursel macht auch immer solche Kuchengesichter? «, fragt sie vorsichtig.
Der Kopf des Jungen geht hin und her. Also nein? Der kleine Finger des Jungen wandert zum Glas mit der Milch. Also wird Ursel ihm Milch zu trinken geben.
»Trink nur, bevor sie wieder kalt wird. «
Es wird wohl besser sein, das Kind für den Moment allein zu lassen, denkt sie. Aber es müsste erst gewaschen werden, am besten gebadet. Das wäre sowohl gegen den Schmutz angebracht, als auch gegen die Kälte im mageren Körper. Ellen weiß, dass sie bei einem so verstörten Kind nichts überstürzen darf. Dennoch. Einen warmen Waschlappen über seine Hände zu streifen ist das Mindeste …
Der Junge lässt es geschehen, und das ist der Anfang allen Mutes, den Ellen Herold an diesem Tag aufbringt, um Vertrauen von diesem Kind zu erheischen.
Als die Milch verschlungen, der Kuchen so nach und nach seinen Weg der Bestimmung genommen hat, legt sie ein buntes Buch an dieselbe Stelle, von der sich der Kleine noch nicht wegbewegt hat. Sie fragt ihn, ob sie ihm daraus vorlesen soll, doch er antwortet nicht. Nur seine Finger berühren neugierig die Seiten mit den Bildern, die mal lustig, mal gruselig anmuten, aber dennoch der Phantasie eines Kindes nicht abträglich sind.
Sowie sie das Buch in ihre Hände nimmt, geht dasselbe Zucken durch den schmächtigen Körper, als ducke er sich vor irgendetwas. Weil nichts passiert, schaut David sie mit großen Augen an, die jetzt weniger ängstlich, vielleicht sogar zufrieden aussehen. Das wohlige Gefühl des Sattseins und die Wärme der Milch haben in seinem Bauch die kindliche Abwehr besänftigt. Es ist die geschwollene Sprache in diesem alten Märchenbuch, die sie davon abhält, dem Kind daraus vorzulesen. Und es sind die Grausamkeiten, die Menschen im Märchen verüben und die nichts mit dem Leben von jetzt zu tun haben können. Dergleichen hat sie ihren eigenen Kindern allzu gerne erspart und manchmal ein Märchen einfach umgedichtet. Aus der Schublade zieht sie zwei Blätter, die sie gottlob erst vor kurzem ausgedruckt hatte. In ihrer Schreibgruppe Die Wortwanderer, die sie halbherzig und dennoch nicht ungern besucht, hatte man beschlossen, mal ein Märchen zu schreiben. Nur vorgelesen hat sie es dort nicht, noch nicht. Vielleicht auch nie. Erst einmal sehen, wie ein Kind darauf reagiert. Schon beim Überfliegen der ersten Zeilen erkennt Ellen Herold, dass es eigentlich ein Märchen für Erwachsenen ist, zumindest, was die Moral der Geschichte ausmacht. Doch der Junge hört zu, auch wenn seine noch immer kalten Finger über ein ganz anderes Bild aus dem Buch streichen. Sie weiß es noch aus ihrer eigenen Kindheit, als sie allzu gerne zu einem Hörspiel im Radio Bilder malte und wie sich die Dinge darauf mit den Worten verknüpften, die sie hörte.
»Der Goldregenbaum«, beginnt sie und legt rasch das ausgedruckte Bild auf die Seite des Märchenbuches, die noch geöffnet ist; Goldregenblüten, die sie als Hintergrund für das Deckblatt ihrer Geschichte vorgemerkt hat, so eitel ist sie wenigstens.
♦ In alten Zeiten, als das Gute noch belohnt und das Böse noch bestraft wurde, lebte ein Mädchen am steinigen Berg. Es war zum Weinen arm. Selbst die Sonne zog sich traurig eine Wolke vors Gesicht, sobald sie es sah. Das Mädchen lebte in einer einsamen Hütte, schlief auf einer harten Matte und besaß nicht einmal Schuhe. Wenn es spielen wollte, nahm es drei Steine von der kargen Erde und ließ sie den Hang hinunterrollen. Vor ihrer Hütte aber stand ein kleiner Baum mit gelben Blüten. Sobald das Mädchen aus der Hütte trat, fielen drei Tropfen aus einer winzigen Wolke auf das Bäumchen. Fortan nannte sie es Goldregenbaum. Dieser Baum trug zuerst nur drei Blüten, aber die waren in dieser tristen Welt des Mädchens allergrößte Freude. ♦
Ellen macht eine Pause und schaut in das Gesicht des Kindes, das nicht mehr so verstört aussieht wie noch vor kurzem auf der Treppe.
♦ Eines Tages kam ein stolzer Reiter des steinigen Weges. »Verkauf mir die Blüten«, sagte er. »Es soll dein Schaden nicht sein. «
»Nein«, antwortete das Mädchen. »Sie sind meine einzige Freude. Wer keine Freude hat, der lebt nicht mehr. « Der Reiter zog wortlos von dannen. Regen und Sonne ließen das Bäumchen wachsen und gedeihen und bald hatte es mehr Blüten, als der Baum tragen konnte. Da kam ein altes Mütterchen an der Hütte vorbei: »Du musst die Blüten zum Markt tragen! «
»Ich kann den steinigen Weg zur Stadt nicht gehen, ich habe keine Schuhe. «
»Lade auf meinen Buckel, was du verkaufen möchtest. Ich will es für dich tun. «
Das Mädchen tat, wie ihm geheißen und sagte der Alten: »Sieh zu, dass du den stolzen Reiter triffst. Schenke ihm drei Blüten, die bin ich ihm schuldig.« »Der Arme ist dem Reichen nichts schuldig«, sagte die Alte und zog mit der Last auf dem Buckel davon. ♦
Seit einiger Zeit spürt Ellen deutlich, wie das Kind zu ihr aufblickt, sobald sie nur Luft holt, und wie es wartet, dass sie weiter liest.
♦ Nach Wochen, als der Goldregenbaum wieder in prächtiger Blüte stand, erschien die Alte wieder vor der Hütte. Aus ihrer Kiepe holte sie Schuhe für das Mädchen und allerlei Nützliches gegen den Hunger bei Tage und gegen die Kälte bei Nacht.
»Das alles hast du für den Goldregen bekommen? «
Die Alte lachte: Wenn ich jung und schön wäre, hätten mir die Leute noch mehr bezahlt.
»Das ist ungerecht«, sagte das Mädchen, bedankte sich artig, lud die Alte zum Abendschmaus ein und bot ihr ein Lager für die Nacht.
»Warum tust du das? Du hast doch selbst kaum zu essen. «
»Ich tu es aus Freude. Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «
Noch ehe die Sonne am Morgen ihre ersten Tränen auf das Bäumchen weinte, war die Alte verschwunden und das Mädchen hat nie wieder etwas von ihr gehört.
♦
Vielleicht sollte sie an dieser Stelle aufhören zu lesen? Überfordert sie ein so kleines Kind mit dieser Geschichte? In diesem Moment spürt sie, wie David ganz nah an sie heranrückt. Etwas muss im kleinen Kopf vorgehen. Etwas, was angenehm war oder ist.
♦ Fortan ging das Mädchen selbst in seinen festen Schuhen den steinigen Weg hinunter in die Stadt und verkaufte die Goldregenblüten auf dem Markt. Es war der einzige Schatz, den es besaß. Vom Erlös kaufte es ein, was es für ihr bescheidenes Leben brauchte. Nicht lange, da trat ein Fremder zu ihm heran. Er hatte die Augen der alten Frau, aber er sprach mit fester Stimme: »Komm mit mir, ich zeige dir, was dein Goldregen wert ist. «
Dieser Mann mit den Augen der Alten erinnerte das Mädchen zugleich an den stolzen Reiter. Es erschrak, hatte es doch vergessen, die Alte zu fragen, ob sie getan hat, worum sie gebeten wurde. Der Mann sah die Not des Gewissens im Gesicht des Mädchens. Er bedankte sich höflich für die drei Blüten, die die Alte ihm geschenkt habe. Froh über diese Botschaft willigte das Mädchen ein, mit dem Mann zu gehen. Nicht weit vom Markt stand ein wunderschönes Haus mit goldenem Dach und mit grünen Fensterläden und davor blühte ein prächtiger Goldregenbaum.
»Es gehört dir«, sagte der Mann. »Ich hab es für dich gebaut. «
»Warum tust du das? «, fragte das Mädchen
»Ich tu es aus Freude«, sagte der Mann. »Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «
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Es ist verlorene Zeit, denkt Ellen, der Junge hat kein Wort verstanden. Aber ist