David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill

David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill


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oder nicht, die Nähe und die Güte ihrer Stimme hat er wohl genossen, sofern er sich nur nicht traute, aufzubegehren.

      In ihren Zweifel hinein greift das Kind nach Ellens Hand. Wortlos. Grundlos? Es hebt das blonde Köpfchen und strahlt sie an, als habe sie ihm ein Geschenk bereitet, das er sich sehnsüchtig erträumt hat. Die unverhoffte Wärme in ihrer Brust gehört zu ihrem Wunsch, zu ihrem Traum.

      »Noch …«, sagt er, und es klingt gar nicht mehr so zaghaft. Er schiebt das Buch in ihren Schoß. Langsam kommen ihr Zweifel, ob das Kind überhaupt sprechen kann oder ob es nur nicht will. Sie lässt David selbst die Buchseiten umlegen. Ungeschickt. Ungeübt, wie es scheint. Seine Hand, deren ungelenke Bewegung beinahe die Seiten ruiniert, hält bei einem der bunten Bilder inne. Zwei Kinder irren durch einen dunklen Wald, an dessen Rand schon eine Hütte zu sehen ist, aus deren Schornstein weißer Watte-Rauch aufsteigt und deren Fensterläden wie Pfefferkuchen aussehen, die mit süßem Eclair verziert wurden, und das Dach, das mit Puderzucker bestreut zu sein scheint.

      »Das soll ich lesen? «

      Der Junge strahlt und bringt zum ersten Mal mehr als nur knappe Worte heraus: »Hm. Und das … und das …«

      »Gut, David. Das alles lesen wir. Versprochen. Aber erst müssen wir dich baden. Du bist ganz kalt und kalte Kinder dürfen keine Märchen anhören. «

      Es ist blöd. Saublöd. Sie ist völlig aus der Übung. David sagt nichts dagegen, schaut sie nur fragend an. Sie nimmt seine Hand und führt ihn ins Bad, wo sie längst fast lautlos warmes Wasser eingelassen hat.

      Das Kind lässt alles geschehen. Sie könnte doch froh sein. Doch ihre Zweifel mehren sich. Die dunklen Streifen an Armen und Füßen sind gar kein Schmutz, ebenso die Flecken an Brustkorb und Lenden nicht, die sie erst jetzt bemerkt.

      Derweil David mit dem Schaum spielt, als habe er ihn lange vermisst, steht sie fassungslos dabei. Sie möchte ihn fragen, was er da angestellt hat, aber bei den wenigen Worten, die sie aus ihm herausbekommt, hat das alles keinen Zweck. Hin und wieder stockt seine Bewegung, und weil sie ihm zunickt, fährt er mit seinem Spiel fort. Quiekend schüttet er eigenhändig mit dem Becher Wasser über seinen Kopf und lacht dabei, wie sie es von diesem Kind noch nie gehört hat und deshalb nicht vermutet hätte.

      Es ist das erste Mal, dass sie den Jungen in ihrer Nähe hat. Es muss nicht das letzte Mal bleiben, und deshalb wird es noch genügend Anlass geben, den Grund der Flecken aufzuspüren. Geschwister können rabiat sein, meinen es vielleicht nicht einmal böse. Aber manch ein Spiel ist unangebracht für ein so zartes Kind.

      Irgendwann lässt die Wärme des Wassers nach und das freudige Spiel muss mit Vernunft beendet werden. Als sie David aus der Wanne heben will, scheint es ihr, als wollte er beißen und kratzen, doch sie muss sich wohl geirrt haben. Die Bilder des verstörten Kindes auf der Schwelle, vor allem das unsichtbare danach, das ihr geistiges Auge abbildet, weil sie es miterlebt zu haben glaubt, beherrschen sie noch immer.

      »So, mein Kleiner. Jetzt rubbeln wir dich trocken und dann lesen wir das Märchen von Hänsel und Gretel. «

      Auch das Rubbeln, das ihren eigenen Kindern nie Freude bereitet hat und das sie deshalb nur zögerlich beginnt, gefällt dem Jungen offenbar. Erst als sie sagt: »Und dann wollen wir mal sehen, ob deine Mama inzwischen zu Hause ist«, schubst er sie weg. Sie übersieht die Garstigkeit, hält ihr Versprechen trotzdem ein und nach dem Märchen gibt es noch einen Schokoriegel mit auf den Weg.

      Dann hört sie Lärm aus der Wohnung von unten. Gregor Brock ist nach Hause gekommen und tobt. Wortfetzen von Essen, das mal wieder nicht fertig ist … die Wohnung nicht aufgeräumt …

      Was immer es ist, es geht sie nichts an. Nur David will sie jetzt um keinen Preis nach Hause bringen. Nach dem, was sie gesehen hat, muss sie annehmen, es wäre nicht das erste Mal, dass der Junge zwischen Frustschläge geraten ist. Was aber, wenn die Eltern sich schon längst Sorgen machen? Vielleicht hat die Mutter schon lange nach ihm gesucht und deshalb den Haushalt vernachlässigt.

      Schweren Herzens nimmt sie das Kind an der Hand und geht bis zum Treppenabsatz mit ihm. Dann nimmt sie in abstoßender Langsamkeit jede einzelne Stufen, zählt von eins an vorwärts, doch das Kind beteiligt sich nicht daran, wie ihre Kinder es früher getan haben; gerne sogar und froh darüber, dass sie schon etwas konnten, was die Erwachsenen auch nicht anders beherrschten.

      Sie weiß nicht, ob sie in der letzten Minute ein einziges Mal geatmet hat. Hinter der Tür der Brocks noch immer Rumor, undeutlich, aber man spürt, dass es nicht die Sorge um das abwesende Kind sein kann. Die Klingel aus Plastik ist verkrustet von unzähligen Kinderhänden. Eigentlich könnte sie läuten und gehen, aber David steht so stocksteif da, als würde er ihr sofort folgen. Vorsichtig, als will man sich eines Bestimmten vergewissern, öffnet sich die Tür einen Spalt.

      »Nicht schimpfen, Frau Brock. David war bei mir. Er saß … auf der Treppe und da dachte ich …«

      Birthe Brock hat rote, verquollene Augen. Ein einziger Gedanke durchfährt Ellen: Vielleicht hat sie doch schon geweint um ihr Kind.

      Nach einem kurzen Moment des wortlosen Messens zweier grundverschiedener Frauen reißt die Mutter dem Kind den Schokoriegel aus der Hand. Mit eben der gleichen Heftigkeit faucht sie zu Ellen: »Das tut ihm nicht gut. «

      »Warum? Was hat er denn? «

      Ihr scheint es, als ob die Frau zuerst erschrickt, dann angestrengt überlegt. Ellen ist sich seit Langem nicht schlüssig, ob ihr Urteil über die Familie noch gerecht ist. Verfärbt von der Tusche, mit der Frau Hedel das Familienbild malt, ist es allemal. Gerade in diesem Moment kann Ellen nachempfinden, warum man in der Nachbarschaft so viel Unverständnis für diese Familie zeigt. Vielleicht unschlüssig, sich einer Fremden anzuvertrauen, vielleicht aber auch garstig, weil die Fremde ihrem Kind mehr Gutes tun kann als sie selbst, platzt Birthe Brock heraus und es klingt nicht gut in Ellens Ohren: »Er ist zuckerkrank. «

      Sie weiß, dass es bei einem so kleinen Kind möglich ist, wenn auch selten, und es ist mal wieder so weit, dass sie mit sich ins Gericht geht, mit niemandem sonst. Noch später, als sie längst in ihre Arbeit vertieft am Computer sitzt, steht das Bild des blassen Kindes neben ihr. Sie kann es überall sehen. An den Wänden. Auf dem Boden. Sogar zwischen den zerstückelten Wolken auf ihrem Computerbild erscheint das verstörende Bild des Kindes, das kaum ein richtiges Wort zustanden bringt, das kaum die Kraft aufbringen kann, die Stufen zu steigen, das dennoch einen herzerwärmend dankbaren Blick zu senden in der Lage ist. Aber dass es schon älter als vier, beinahe fünf Jahre sein soll, will sie nicht glauben. Zu gerne hätte sie mit der Mutter geredet, dagegen spricht ihre eigene Devise von den Worten, die wie Gewehre den Verlust deines Ichs retten oder dein Ego töten.

      Birthe Brock gelang allein durch Gesten schon letzteres und doch ist ihr Ego durch eine Erkenntnis gestärkt: David ist krank. Diese Nachricht brennt Scham in ihr Gewissen. Was kann man aus Unwissenheit nicht alles falsch machen, auch als reifer, wissender Mensch. Dass sie nicht alles weiß, bedrückt sie nicht. Heute kann man jedes Defizit des Wissens unkompliziert ausmerzen. Zuerst sucht sie im Netz nach Diabetes bei Kindern. Noch einmal soll ihr nicht ein so eklatanter Fehler passieren.

      Großes Drama im kleinen Körper, liest sie die erstbeste Überschrift, und ihr Gewissen möchte aufschreien. Hat das Kind immer Durst, muss es oft zur Toilette und verliert es an Gewicht? … Fünfundzwanzigtausend Kinder in Deutschland sind betroffen … Zwei Auslöser sind die Schuldigen – Gene und Viren. … Masern, Mumps und Röteln können die Körperabwehr in die Irre leiten … Der Überschuss an Zucker im Blut entzieht dem Körper Wasser … Je süßer das Blut, desto mehr Urin scheiden die Nieren aus … die Zellen können die Energie nicht nutzen … die Kleinen werden müde, schlapp und lustlos.

      Obwohl der Junge die ganze Zeit über nicht einmal zur Toilette musste und obwohl sie den typischen Aceton-Geruch des Atems nicht feststellen konnte, von dem sie gerade liest, macht sie sich große Vorwürfe. Nach weiteren Zeilen, die sie angestrengt in sich aufsaugt, wird ihre Sorge zuerst noch größer: Wird die Diabetes zu spät festgestellt, gleitet das Kind schlimmstenfalls ins Koma.

      Ellen atmet auf: Zum Glück hat die Familie bei all ihren Problemen


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