Schulpsychologie -. Jürgen Mietz

Schulpsychologie - - Jürgen Mietz


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target="_blank" rel="nofollow" href="#uce2d6427-c00b-43d4-88c2-c87d07996141">4 Fazit 231

      »Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.«

      Susan Sontag

      Über Schulpsychologie und Bildungspolitik zu schreiben, war für mich über eine Reihe von Jahren hinweg eine Möglichkeit, mit Widersprüchen und Resten des beruflichen Alltags ins Reine zu kommen. Vieles von dem, was ich mit Kolleginnen und Kollegen im kollegialen Austausch, bei Fortbildungen, Supervisionen oder bei Dienstbesprechungen erfuhr und lernte, wollte ich weiter durchdenken, problematisieren, richtigstellen.

      Worum es – anfangs eher unterschwellig – ging, war so etwas, wie den Kern »meiner« Psychologie zu bestimmen. Was sollte sie beinhalten, wie sollte sie definiert und abgegrenzt sein, um sie darzustellen, handhabbar und nützlich zu machen? Ich entdeckte im Laufe der Beschäftigung mit dem, was meine (Schul-) Psychologie sein könnte, dass sowohl in der Psychologie als auch in der Schule, Wert und Würde des Individuums nicht auf den Begriff gebracht wurden. Zwar war von der Einzigartigkeit des Individuums viel die Rede, aber wie ließ sie sich fassen?

      Es war meine Weiterbildung am damaligen Siegener Institut für Psychologie (Heute: Institut Johnson), die mir mit ihrem historisch-dialektischen Ansatz einen theoretischen und praktischen Einstieg in dieses Thema verschaffte. In der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz wurde mir deutlich, dass die großen gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen eine Tendenz haben, sich das Individuum ihren Formierungsansprüchen zu unterwerfen; die viel beschworene Individualität samt Kreativität sind damit eingeschränkt. Dem Individuum zu seiner Subjektivität, zu einem Verstehen seiner konkreten Einzigartigkeit zu verhelfen und sie in den schulischen und familialen Prozess einzubringen, wurde mehr und mehr zu meiner Leitlinie. Worauf es mir nun ankam, war, ein »gesundes« Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Organisation/Institution herzustellen. Sie sind Pole, die einander brauchen, soll es Entwicklung geben. Und diese Pole müssen in ihrer eigenen Historie und aktuellen Dynamik verstanden werden.

      Logische Folge war, dass ich mich mit den Eigentümlichkeiten, den offenen und heimlichen Aufträgen der Schule als System befasste, parallel zu den »Erkundungen des Subjekts«.

      Die Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in NRW befanden sich Ende der 70 er, sowie in den 80 er und 90 Jahren in einem Findungsprozess. Es gab Ende der 70 er, Anfang der 80 er Jahre relativ viele Neueinstellungen als Folge des (sich mehr und mehr verdünnenden) Bildungsgesamtplans. Aus dem »Nichts« hatten wir unsere schulpsychologischen Selbstverständnisse zu entwickeln.

      Wie sehr hatte sich Schulpsychologie an Pädagogik, Schule und Aufsicht anzupassen, um nützlich zu sein, um überleben und gestalten zu können? Wie konnte sie in dieses sehr selbstbewusste Universum mit mehrhundertjähriger Tradition, ausgestattet mit staatlicher Macht (Schulpflicht), eigene Identität einbringen und Spuren hinterlassen?

      Insbesondere der breit diskutierte und mit Helmut Heyse1 verbundene Paradigmenwechsel der Schulpsychologie stellte den einzelnen Schulpsychologen, die Berufsgruppe, wie auch Schulen und die Institution »Schulpsychologie« vor die Aufgabe kritischer und selbstkritischer Reflexion. So unterschiedlich die Varianten auch waren, so hatte es doch im Sinne des Paradigmenwechsels darauf hinauszulaufen, dass Schulpsychologie im Kind und Schüler nicht mehr den alleinigen Symptomträger, den es zu »heilen« galt, sah, sondern sich auch der Lehrkraft, ihrer Persönlichkeit, sowie den organisationellen Bedingungen, unter denen der schulische Prozess stattfand, zuwandte. So gerieten die Interaktionsdynamiken Schüler – Lehrer – Klasse in den Blick, mit den konkreten, besonderen Ausformungen, wie Menschen und ihre Kommunikations- und Organisierungsformen zu bilden im Stande sind.

      In diesem Verständnis schulpsychologischer Arbeit überwanden Beratung und Schulpsychologie den Charakter einer quasi-therapeutischen Intervention, die sich am Kind zu zeigen hatte. Sie nahm zusätzlich zur Betrachtung des Kindes den Charakter von Reflexion, Aufklärung, von Teamberatung für die Professionellen im System an. Sie sollten das Kind und die eigenen Interaktionen mit ihm verstehen, ihre Selbstkenntnis erhöhen, wie auch die Wirkungen der Organisation auf das Kind und die eigene Person und Rolle erfassen. – Es gab vieles zu verstehen, zu präzisieren und zu erklären – für mich hieß das, meine Erfahrungen und Überlegungen schriftlich festzuhalten.

      In der Mitte der 90 er Jahre wurde viel über die Notwendigkeit einer grundlegenden Modernisierung der Schule diskutiert. Unter anderem ging es auch darum, den tatsächlichen oder vermeintlichen Bürokratismus in öffentlichen Verwaltungen und Schulen abzubauen2. Modelle betrieblicher Organisationsentwicklung wurden an Schule herangetragen. Als Beweis der Fähigkeit zur sachgemäßen Anpassung war auch von Pädagogischer Organisationsentwicklung die Rede. Sogar Modelle mit einer stärkeren Demokratisierung der Schule waren in der Diskussion (Horst Hensel). Insgesamt ging die Reise aber in Richtung Rationalisierung und Ökonomisierung der Schule, unter Beibehaltung oder gar Verstärkung der Rede von Individualisierung, Partizipation etc.

      Die Ausrichtung der Schule an Interessen der Ökonomie und der Unternehmer wurde mit den Ergebnissen der »Kommission für Zukunftsfragen«3 (Bayern-Sachsen-Kommission) untermauert. Spätestens von diesem Zeitpunkt an wuchsen Interesse und Einflussnahme der Wirtschaftsverbände an und auf Schule. Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung wurden zwar weiterhin in der Rhetorik der Emanzipation und der Befreiung betrieben, der Rahmen dafür wurde jedoch durch die unternehmerischen Interessen gespannt4.

      Noch einmal zurück zu »meiner« Psychologie. Es schien mir wichtig, als Psychologe im Arbeits- und Lebensbereich Schule mit einem handhabbaren Begriff der Persönlichkeit arbeiten zu können. Er sollte die Einzigartigkeit der Person und ihre Nutzung für den gesellschaftlichen und arbeitsmäßigen Prozess beschreiben können. Das schien mir mit dem Ansatz des heutigen »Institut(s) Johnson« möglich5. Mit der allgemeinen Arbeitsbeschreibung »Persönlichkeit im schulischen Prozess« war mir eine positive Abgrenzung vom medizinischen Paradigma und von mechanistischen psychologischen Ansätzen möglich, die den Klienten mehr oder weniger zum Objekt von Trainings machten. Die Einbeziehung von Erkenntnissen der Bindungsforschung erweiterten Möglichkeiten des Verstehens problematischen Verhaltens und der Intervention.

      Es ging darum, mit den Kindern und ihren Bezugspersonen auf der Grundlage eines Verstehens der eigenen Geschichte, der daraus resultierenden »Programmatik« und der gegenwärtigen Situation zu den Persönlichkeiten passende Anforderungen zu finden. Diese nehmen vor dem Hintergrund persönlicher Geschichte eigene, subjektive Bedeutung an, die beachtet sein will. Einen wichtigen Beitrag zu solcher Verstehensleistung können die Professionellen im System Schule erbringen – wenn sie die dafür erforderliche psychologische Unterstützung bekommen. Dazu gehört, ein hohes Maß an Einsicht in die eigene Persönlichkeit und Berufsrolle zu bekommen, wie auch in die Welt des Kindes und in die Interaktionsdynamik, in der »ich« mich befinde. Im günstigen Fall wird das komplementiert durch ein Verstehen »meiner« Organisation, der ich angehöre. Auf dieser Grundlage können Lehren, Lernen, Erziehen persönlich und einzigartig sein.

      Das kann meines Erachtens besonders gut mit dem Beratungsformat der Supervision gelingen. Hier war es vor allem die Mitarbeit in einer überregional zusammengesetzten Gruppe von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, die von Harald Pühl6 supervidiert wurde. Die langjährige Zusammenarbeit hatte qualifizierenden Charakter und schaffte mir die Grundlage eigener supervisorischer Arbeit mit Lehrkräften und anderen Professionellen der Schule. Von dieser Arbeit berichte ich unter anderem in zwei Aufsätzen, die hier aus urheberrechtlichen Gründen nicht wiedergegeben können.7

      Meine Berufsjahre in NRW waren davon gekennzeichnet, Schulpsychologie als Unterstützungssystem für Schule mitzugestalten. In meinen Augen handelte es sich dabei um eine Einheit von Unterstützung für das Kind und von Personal-/Schulentwicklung. Die intensiven Debatten unter Kolleg/inn/en, wie auch der Austausch mit unterschiedlichen Ebenen der Schulaufsicht hatten dadurch in der Regel ein breites Themenspektrum. Es gab viele Ansätze für Projekte und Kooperationen. Selbstverständlich gab es auch da und dort auch Stagnation und Blockaden.


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